Die ehemalige Sowjetrepublik Kasachstan befindet sich im Ausnahmezustand. Seit Neujahr gehen Tausende Menschen auf die Strasse und demonstrieren gegen die Regierung. Offenbar soll es schon mehrere Dutzend Tote gegeben haben. Russland sowie weitere Staaten haben Truppen in das öl- und gasreiche Nachbarland entsandt.
Blick erklärt, was in Kasachstan passiert und welche Auswirkungen die Ausschreitungen haben könnten.
Was ist in Kasachstan los?
In der Wirtschaftsmetropole Almaty sowie an andern Orten gehen seit dem Wochenende die Menschen auf die Strasse, um gegen die massiv steigenden Preise von Flüssiggas zu protestieren. Viele Kasachen tanken Flüssiggas, weil es billiger als Benzin ist. Seit Jahresbeginn wird der Gashandel über die Energiebörse abgewickelt. Die Inflation ist stark angestiegen.
Inzwischen richtet sich die Wut immer mehr gegen die Regierung. In der Nacht auf Donnerstag sind bei der Stürmung von Polizeigebäuden offenbar «Dutzende Angreifer eliminiert» worden. Die Behörden meldeten bisher acht getötete Polizisten und Soldaten. Es soll über tausend Verletzte gegeben haben. Allein in Almaty wurden über 2000 Personen verhaftet.
Warum sind die Kasachen mit der Regierung unzufrieden?
Kasachstan wurde von 1990 bis 2019 von Nursultan Nasarbajew (81) regiert, der die Amtsgeschäfte an Kassym-Jomart Tokajew (68) übergeben hat. Auch nach seinem Abgang blieb der Langzeitherrscher, dem Korruption vorgeworfen wird, als lebenslanger «Führer der Nation» einflussreich.
Tokajew, der 2011 bis 2013 Generaldirektor des Uno-Büros in Genf war, kündigte am Mittwoch an, dass er den Vorsitz übernommen habe. Befürchtet wurde, dass es in Kasachstan zu einer Revolution kommen könnte. Medien berichteten, Polizisten hätten sich geweigert, Menschen festzunehmen.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit trat die Regierung unter Premierminister Askar Mamin (56) zurück. Der bisherige Vize-Regierungschef Alichan Smailow (49) übernahm die Amtsgeschäfte.
Warum greift Putin ein?
Russland hat Fallschirmjäger ins zentralasiatische Land verlegt. Der Hintergrund: Kasachstan gehört dem Militärbündnis Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) mit Russland, Armenien, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan an, das nun unter russischer Führung und auf Ersuchen Kasachstans eine «Friedenstruppe» entsendet.
Will Putin den ehemaligen Sowjetstaat wieder einverleiben?
Medien berichten, dass es offen sei, was Putin mit seiner «Friedenstruppe» wirklich vorhabe. Putin hat die Staatlichkeit Kasachstans in der Vergangenheit in Frage gestellt. Etwa 3,5 Millionen Russen leben vor allem im Gebiet der Grenze Kasachstans zu Russland. Seit Jahren verfolgt Russland die Politik, in den Nachbarländern russische Pässe zu verteilen und mit der Verteidigung der russischen Bevölkerung zu drohen.
Hauptziel dürfte laut Beate Eschment (61) vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin jedoch sein, Ruhe und Stabilität herzustellen. «Schliesslich hat die Russische Föderation eine 6000 Kilometer lange Landgrenze mit Kasachstan und schon fast traditionell Angst vor einer Destabilisierung der Föderation von Süden aus.»
• Fläche: 2,725 Millionen km² (Schweiz: 41'285 km²)
• Einwohner: 18,9 Millionen (Schweiz: 8,6 Millionen)
• BIP* pro Kopf: 8733 Dollar (Schweiz: 86’601 Dollar)
• Sprache: Kasachisch (Nationalsprache), Russisch
• Unabhängigkeit: 16. Dezember 1991 (von der Sowjetunion)
• Währung: Tenge
* Bruttoinlandprodukt nominal
• Fläche: 2,725 Millionen km² (Schweiz: 41'285 km²)
• Einwohner: 18,9 Millionen (Schweiz: 8,6 Millionen)
• BIP* pro Kopf: 8733 Dollar (Schweiz: 86’601 Dollar)
• Sprache: Kasachisch (Nationalsprache), Russisch
• Unabhängigkeit: 16. Dezember 1991 (von der Sowjetunion)
• Währung: Tenge
* Bruttoinlandprodukt nominal
Zieht Putin nun seine Truppen von der Ukraine ab?
Kaum. Beate Eschment erwartet nicht, dass der russische Präsident seine Ukraine-Politik aus Kapazitätsgründen ändert. «Die Russische Föderation hat ausreichend Ressourcen.» Grosse Truppen seien zudem in Kasachstan nicht nötig.
Was unternimmt die kasachische Regierung?
Tokajew wirft «Terrorgruppen» vor, hinter den Protesten zu stecken. Ausgebildet würden die Gruppen «im Ausland», sagte er im Staatsfernsehen. Die Regierung versucht mit Preisobergrenzen die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen. Für die kommenden 180 Tage solle dies für Benzin, Diesel und Flüssiggas gelten, hiess es. Zudem wurden die Winterferien an Schulen bis zum 17. Januar verlängert.
Wie wird sich die Lage entwickeln?
Am wahrscheinlichsten ist laut Beate Eschment, dass mit Hilfe der OVKS-Truppen «gewaltsam Ruhe – Friedhofsruhe – hergestellt wird». Damit sei das eigentliche Problem aber nicht gelöst. Eschment: «Die aktuellen Ereignisse zeigen eine grosse Unzufriedenheit. Wenn Kasachstan nicht ein Polizeistaat von Russlands Gnaden werden will, müssten dringend Reformen in Angriff genommen werden.»
Wie reagiert die Welt?
Russland rief zu einer friedlichen Lösung und die EU zur Einhaltung von internationalen Verpflichtungen auf. «Die Europäische Union fordert die Behörden auf, das Grundrecht auf friedlichen Protest zu achten», sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Diensts. Von den Demonstranten erwarte die EU, dass diese friedlich protestierten und nicht zu Gewalt anstachelten.
Welche Auswirkungen haben die Unruhen international?
Dass die Ausschreitungen auf andere Länder übergreifen könnten, glaubt Beate Eschment nicht. «Sicherlich ist man auch in Peking sehr beunruhigt, aber ohne selber aktiv zu werden. Insgesamt erwarte ich keine grösseren internationalen Auswirkungen.»
Warum ermittelte die Schweiz gegen den Präsidenten?
Die Schweiz und Kasachstan sitzen zusammen mit Aserbaidschan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan, Polen, Serbien und Montenegro in der IWF-Stimmrechtsgruppe «Helvetistan». Diese Zusammenarbeit mit «autokratisch regierenden» Ländern hatte zu kritischen Vorstössen in Nationalrat geführt.
2010 ermittelte die Schweizer Bundesanwaltschaft gegen Nasarbajew und seinen Schwiegersohn Timur Kulibajew (55) wegen Verdachts auf Geldwäsche, nachdem dieser am Genfersee mit seiner Frau eine Villa zum Fantasiepreis von 75 Millionen Franken gekauft hatte. Die Ermittlungen verliefen im Sand und wurden eingestellt.
Im Herbst 2021 empfing Bundesrat Ignazio Cassis (60) Aussenminister Mukhtar Tileuberdi (53). Die beiden unterstrichen die guten Beziehungen und unterzeichneten zwei Abkommen für Diplomaten.