«Er bekam zwei Jahre, sitzt aber seit 23 Jahren im Knast»
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Senns Anwalt im Oktober:«Er bekam zwei Jahre, sitzt aber seit 23 Jahren im Knast»

Verwahrung in der Schweiz – Teil 2
«Die Verwahrung ist ein Todesurteil auf Raten»

Marc Senn kämpft seit zehn Jahren um eine Chance auf ein Leben in Freiheit. Er gibt sich über Jahre hinweg Mühe, macht grosse Fortschritte – doch es hilft nichts. Über unerfüllbare Anforderungen.
Publiziert: 11.10.2023 um 13:47 Uhr
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Aktualisiert: 11.10.2023 um 17:13 Uhr
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In Marc Senns Zelle (Name geändert) befindet sich kaum etwas Persönliches. Keine Fotos, keine Karten, keine Briefe – keine Erinnerungen.
Foto: STEFAN BOHRER
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Die Zelle von Häftling 746 wirkt sonderbar leer: Bücher, Akten, Stifte sind säuberlich im Regal aufgereiht. Abgesehen von einem YB-Käppli («einem Stück Heimat») besitzt Marc Senn (Name geändert) nichts Persönliches. Keine Fotos, keine Karten, keine Briefe – keine Erinnerungen. Eine Zelle, die jedem gehören könnte. Ein Leben ohne nennenswerte Erinnerungen.

Senn ist im Alter von 18 zu zwei Jahren Haft verurteilt worden – und sitzt nun seit 23 Jahren. Seit zehn Jahren kämpft er um eine Chance. Doch jedes seiner Gesuche wurde abgelehnt. Er sei zu gefährlich, heisst es. Doch wer bestimmt das? Und: Gibt es Hoffnung für ihn?

Zwei Dinge sind ausschlaggebend: die psychiatrischen Gutachten und das Verhalten im Vollzug – sie stellen die Weichen für das weitere Vorgehen der Justiz.

In den letzten 23 Jahren sind über Senn fünf Gutachten erstellt worden. Alle attestieren ihm eine Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen und dissozialen Anteilen. Eine unspezifische Störung, die je nach Ausprägung stark variiert: Manche Menschen leben mit dieser Diagnose relativ konfliktfrei, andere sind nicht alltagstauglich. Die Gutachterinnen müssen in ihren Berichten klar umschreiben, wie ausgeprägt die Störung ist. Vor allem müssen sie einschätzen: Wird Senn wieder rückfällig?

Von «sensibel» und «intelligent» bis «feindselig»

Schaut man sich seine Vollzugsberichte an, hat Senn zwei Seiten: Er wird als offen, zugewandt und intelligent beschrieben, als junger Mann mit grossem Allgemeinwissen, der sich auszudrücken weiss. Seine Arbeitsleistungen im Metallbau und in der Gärtnerei sind «gut» bis «sehr gut». Auch in der Therapie zeigt er sich immer wieder motiviert und korrekt. 

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Ein Gutachter schreibt, Senn gehe «sorgfältig abtastend» auf Menschen zu, sei sensibel. Einmal hebt er ein Kuschelstück für einen Mitinsassen vom Boden auf, ein andermal hilft er einem Gehörlosen.

Andererseits wird sein Verhalten als «feindselig, unanständig und latent drohend» beschrieben: Er beschimpfe Leute, werfe Dinge herum. Er duzt eine Therapeutin, beschimpft eine Betreuerin als «Schlumpf-Schlampe».

Aus der Sicht seines Verteidigers Julian Burkhalter (40) wird im Vollzug jede noch so kleine Abweichung notiert und hat Konsequenzen – «auch wenn sie für eine allfällige Rückfallgefahr keine Rolle spielt».

Sanktioniert, weil er die Bürotür laut zuknallte

Einmal wird Senn wegen «lauten Bürotürknallens» sanktioniert, ein andermal, weil er sich weigert, einen Sexualstraftäter zu grüssen. Er sagt, er kenne den Unterschied zwischen Therapie und Schikane. Einmal habe er sein Geschirr gewaschen, abgetrocknet und in die Schublade gelegt – dann habe es geheissen: «Herr Senn, es sind noch Wassertropfen im Lavabo.»

Ist Häftling Senn gefährlich? Und genügt das, um ihm sämtliche Vollzugslockerungen zu verweigern?

2003, 2007 und 2009 ist die Antwort eindeutig: ja. 

2001 steckt er einem Mitinsassen einen Apfel in den Mund und würgt ihn. Senn sagt, er habe sich gegen sexuelle Avancen des verurteilten Sexualstraftäters gewehrt. Später erklärt er einem Therapeuten seine Reaktion damit, dass sein Grossvater ihn «am Schwanz angelangt» haben soll.

Mit den Jahren wird es ruhiger, Senn wird hinter Gittern erwachsen. 2013 habe er erstmals Anschluss gefunden, sei klargekommen, sagt er. Im selben Jahr stellt er das erste Entlassungsgesuch. Der Antrag wird abgewiesen.

Eineinhalb Jahre zu Unrecht verdächtigt

Es geschehen Fehler. 2015 lässt ein Mitinsasse einen lauten Spruch über die Vagina einer Betreuerin fallen. Der Verdacht fällt auf Senn, der sich erfolglos wehrt. Seine Therapie wird abgebrochen. Er sei eineinhalb Jahre lang als potenzieller Sexualstraftäter abgetan worden, sagt Senn, bis die Behörde das Missverständnis eingeräumt habe.

2016 wird wieder ein Entlassungsgesuch abgewiesen. Auch Urlaub, selbst begleiteten verbietet man ihn. Obwohl dies vom Gesetz vorgeschrieben und für eine Resozialisierung wichtig ist.

2017 hält ein neues Gutachten fest, es zeigten sich klare Fortschritte. Senn sei «sozial und emotional anpassungsfähiger» geworden. Die Gutachterin empfiehlt eine Umwandlung in eine stationäre Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung». Hier stünde die Therapie im Vordergrund, eine Verlegung in eine offene Einrichtung wäre möglich. 

Ein Hoffnungsschimmer. Doch wieder passiert nichts.

Jahrelang mauern die Behörden

2019 übernimmt Julian Burkhalter Senns Verteidigung. Der Fall ist selbst für den erfahrenen Anwalt aussergewöhnlich: Die Diskrepanz zwischen Strafe und Haftdauer sei «krass».

Senns Fall stehe für ein grundsätzliches Problem im Massnahmenvollzug: Es werde nicht mehr auf Freiheit hingearbeitet, nicht mehr auf Resozialisierung – ein Grundprinzip unseres Rechts –, es gehe rein um die Sicherung. Lockerungen seien selten; vielfach fehle es am richtigen Setting, aber auch an nachhaltiger Therapie. Burkhalter sagt es so: «Die Verwahrung ist ein Todesurteil auf Raten.»

Anwalt Burkhalter: «Das System läuft auf Auto-Pilot.»
Foto: Zamir Loshi

Einige Kantone, etwa Bern, verweigerten konsequent die unentgeltliche Rechtspflege für Verwahrte – auch dies ein Grundrecht. Eine ernsthafte Überprüfung der Verwahrung und ob diese noch verhältnismässig sei, finde in der Regel nicht statt. Burkhalter: «Das System läuft auf Autopilot.» Der Fall Marc Senn sei nur möglich, weil keine Behörde die Entscheidungen der jeweils anderen infrage stelle. «Es fehlt ein Korrektiv.»

Eine, die ihm da zustimmen dürfte, ist Marianne Heer. Die ehemalige Luzerner Kantonsrichterin gilt als eine der Schweizer Koryphäen im Massnahmenrecht. Sie spricht von einer bedenklichen Situation: «Wir haben immer mehr Menschen in Massnahmen, die Massnahmen dauern immer länger – so lange, dass man es mit rationalen Argumenten nicht mehr erklären kann.»

Dass im Schweizer Verwahrungsvollzug etwas grundlegend falsch läuft, hat 2022 auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter festgestellt. Dieser entspreche in vielen Bereichen nicht den menschenrechtlichen Standards.

«Vollzugsbehörde fällt Entscheide – das ist falsch»
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Ex-Richterin Marianne Heer:«Vollzugsbehörde fällt Entscheide – das ist falsch»

Man will die Leute «brechen»

Burkhalter sagt, es gebe Fälle, da mache eine Verwahrung Sinn. «Aber in viel mehr Fällen ist sie nicht gerechtfertigt.» Der Sicherheitswahn der Behörden verletze die Menschenrechtskonvention – und verursache immense Kosten. Es gehe weniger darum, mit psychisch kranken Tätern angemessen umzugehen, sondern vielmehr, ihnen eine neue Persönlichkeit aufzuzwingen, sie zu brechen. Wolle ein Insasse aus einer Massnahme entlassen werden, habe er sich kooperativ, korrekt und regelkonform zu verhalten. Ein «Unterwerfungsritual», sagt Burkhalter. 

«Mit 80, gezeichnet von Medikamenten und jahrzehntelanger Haft, ist man nicht mehr gefährlich. Aber welche Qualität ein solches Leben noch hat, ist eine andere Frage.» Und weiter: «Ein Oberrichter sagte mir, wir werden uns in 20 Jahren bei den Verwahrten genauso entschuldigen müssen wie jetzt bei den Verdingkindern.»

2019 stellt Burkhalter ein Gesuch auf Umwandlung in eine stationäre Massnahme. Es wird abgelehnt. 2020 erneut – trotz Gutachten.

Senn verzweifelt fast

Marc Senn arbeitet an sich, gibt sich über Jahre hinweg Mühe. Doch es reicht nie. In einem Bericht heisst es, bei Senn sei «eine deutliche Resignation und Hoffnungslosigkeit zu beobachten». Senn sagt dazu: «Wenn ich zurückdenke, ist es, als würde ich nicht existieren.» Er fühle sich leer, abgenutzt, abgestumpft.

Senn auf seiner Wohngruppe in der Pöschwies. Hier darf er sich tagsüber «frei» bewegen.
Foto: STEFAN BOHRER

Die Anforderungen an Häftlinge, sagt Heer, seien derart hoch, dass sie kaum zu erfüllen sind. «Man muss im Vollzug so funktionieren, wie auf der Strasse sonst niemand funktioniert.» Zu gut einfügen dürfe man sich jedoch auch nicht, «sonst gilt man als überangepasst und nicht mehr glaubwürdig». 

Burkhalter erringt 2020 vor Bundesgericht einen Teilsieg: Die Berner Behörde habe Senns Verfahren verschleppt und seine Verwahrung nicht sorgfältig überprüft. Nun beginnt alles nochmals von vorne.

Nach 20 Jahren noch immer gefährlich

2021 empfiehlt ein neues Gutachten erneut eine stationäre Massnahme. Eine bedingte Entlassung jedoch lehnt der Gutachter ab: Senn habe die Ziele nicht erreicht – insbesondere eine totale Drogenabstinenz, die für Lockerungen notwendig wäre. Er hat zwar seit 2001 keinen Alkohol mehr getrunken, wurde aber wiederholt wegen Cannabiskonsums diszipliniert. Zwischenzeitlich erhielt Senn auch Methadon.

Das bedeutet eine Verwahrung
Die Verwahrung nach StGB Art. 64

Die ordentliche Verwahrung gilt auf unbestimmte Zeit, trifft Täter, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben, als gefährlich und untherapierbar gelten. Im Jahr 2021 befanden sich in der Schweiz 145 Menschen in einer Verwahrung. Darunter ist laut Bundesamt für Statistik eine Frau.

Eine Entlassung wird regelmässig geprüft, ist aber selten. In den letzten zwanzig Jahren waren es meist zwischen drei und sechs Personen pro Jahr.

Die stationäre Massnahme nach StGB Art. 59

Wird ein Täter als psychisch krank und gefährlich eingestuft, kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung» anordnen. Die Massnahme dauert höchstens fünf Jahre, kann jedoch beliebig verlängert werden. Heute sind über 800 Personen in der «kleinen Verwahrung», 2008 waren es erst knapp 300.

Sowohl die Verwahrung als auch die stationäre Massnahme dienen ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Sie folgen nach der Freiheitsstrafe.

Die Verwahrung nach StGB Art. 64

Die ordentliche Verwahrung gilt auf unbestimmte Zeit, trifft Täter, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben, als gefährlich und untherapierbar gelten. Im Jahr 2021 befanden sich in der Schweiz 145 Menschen in einer Verwahrung. Darunter ist laut Bundesamt für Statistik eine Frau.

Eine Entlassung wird regelmässig geprüft, ist aber selten. In den letzten zwanzig Jahren waren es meist zwischen drei und sechs Personen pro Jahr.

Die stationäre Massnahme nach StGB Art. 59

Wird ein Täter als psychisch krank und gefährlich eingestuft, kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung» anordnen. Die Massnahme dauert höchstens fünf Jahre, kann jedoch beliebig verlängert werden. Heute sind über 800 Personen in der «kleinen Verwahrung», 2008 waren es erst knapp 300.

Sowohl die Verwahrung als auch die stationäre Massnahme dienen ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Sie folgen nach der Freiheitsstrafe.

Gemäss Prognosen gilt er weiterhin als gefährlich: Risikokategorie 7 von 9. Die Hälfte der Täter dieser Kategorie ist innerhalb von sieben Jahren nach der Entlassung rückfällig geworden. Solche Gefährlichkeitsanalysen sind wissenschaftlich umstritten, trotzdem kommen sie standardmässig zum Einsatz.

Elmar Habermeyer, Klinikdirektor für forensische Psychiatrie am Universitätsspital Zürich und renommierter Gutachter, mahnt zur Vorsicht bei solchen statistischen Aussagen über die Gefährlichkeit: Diese würden umso schwieriger, je mehr Zeit zwischen Delikt und Begutachtung vergangen sei. «Um dann Prognosen machen zu können, muss man den Betroffenen sehr gut kennen.»

Es dauert nochmals 13 Monate, bis die Berner Vollzugsbehörde eine Umwandlung beim Gericht beantragt. Da ist es Dezember 2022. Noch im September wurde Senns Urlaub verweigert. Burkhalter wehrt sich auch dagegen. Nichts passiert.

Burkhalter macht sich keine Freunde, doch er bringt mit seiner Beharrlichkeit Bewegung in Senns Fall. Nach jahrelangem Stillstand. Ende Juni 2023 kommt es zum Gerichtstermin.

Wie es mit Marc Senn weitergeht, lesen Sie im dritten und letzten Teil der Serie. 

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