Darum gehts
Wie die Schweiz mit Spielsucht umgeht, macht Tobias Hayer fassungslos. «Das ist so, als ob man es einer Kneipe überliesse, zu sagen, wie viel Bier pro Tag und Person gesundheitsschädigend sei», sagt der renommierte Glücksspielforscher.
Es war der Fall von Elmira Deniz, der das ungläubige Kopfschütteln des Experten auslöste. Und die bislang geheimen Schutzkonzepte des Grand Casino Baden, die dem Beobachter exklusiv vorliegen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Sie war nie eine Spielerin. Nicht der Risikotyp, sagt sie. Doch der Spätsommer 2021 war eine düstere Zeit für die heute 46-Jährige. Sie betreute schwer kranke Patienten, als die Corona-Pandemie noch die Intensivstationen dominierte. Die Pflegeassistentin, die in Wahrheit anders heisst, suchte nach Ablenkung zwischen ihren Nachtschichten. Und fand sie im Glücksspiel – mit einem einzigen Klick auf dem Handy.
Kein Einzelfall. Der Bruttospielertrag von legalen Schweizer Online-Casinos stieg während des Pandemiejahres 2021 um 25 Prozent auf 234 Millionen Franken an. Und nicht nur das: Eine Studie von Sucht Schweiz zeigt, dass sich während der Pandemie der Anteil Spielsüchtiger mehr als verdoppelte.
Elmira Deniz war eine davon. Nur drei Monate nach dem ersten Klick war sie ruiniert. Sie verspielte mit den farbigen Slotmaschinen nicht nur ihr eigenes Geld. Sondern auch das Geld ihres Mannes, ihres Sohnes und ihrer Geschwister. «Ich war teilweise wie weggetreten und spielte stundenlang, teilweise die ganze Nacht durch», erinnert sie sich. «Immer in der Hoffnung, den Rausch des Gewinnens wieder zu erleben oder Verluste zurückzuholen.»
Am Ende war sie so fertig, dass sie der Kundenberaterin des Casinos schrieb: «Habe über 10 Kilo an Gewicht verloren, habe Schlafstörungen, Depressionen, Konzentrationsstörungen, weil ich nur noch die Slots im Kopf hatte. Mein Leben ist RUINIERT.» Heute fragt sie sich: «Wie kann es sein, dass mich niemand stoppte?»
Diese Frage beschäftigte auch ihren Anwalt Manuel Bader, der sich auf Glücksspielfälle spezialisiert hat. Er sagt: «Es stimmt etwas nicht, wenn jemand seinen ganzen Jahreslohn verspielen kann, ohne dass beim Casino Warnsignale aufleuchten und es den Spieler sperrt.» Im Internet wird jeder Klick überwacht.
Erst seit 2019 dürfen Schweizer Casinos Onlinespiele anbieten. Sie sind stark reguliert. Das Gesetz verlangt «angemessene Massnahmen zum Schutz der Spieler vor exzessivem Geldspiel». Nur dann erhalten die Casinos eine Konzession von der Eidgenössischen Spielbankenkommission.
Fragwürdige Schutzkonzepte
Jackpots.ch vom Grand Casino Baden, die Plattform, auf der Deniz spielte, schreibt auf seiner Website, alle angebotenen Spiele würden einer «strengen Prüfung» unterzogen. Die Betreiber betonen, dass sie verantwortungsbewusst und vorbildlich geschäften.
Doch darüber, wie genau der Spielerschutz gestaltet ist, schweigen sich die Casinobetreiber aus. Ihre Dokumente versuchen sie geheim zu halten – vor allem die Schwellenwerte, die Alarme auslösen und zu Spielsperren führen. Sie argumentieren, dass die Spielenden die Limiten umgehen können, wenn sie diese kennen.
Doch nun liegen dem Beobachter die Dokumente von Jackpots.ch vor. Deniz’ Anwalt klagte erfolgreich auf deren Herausgabe. Es ist das erste Mal, dass diese Informationen von Journalisten eingesehen werden können. Die Tamedia-Zeitungen erhielten letztes Jahr gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz lediglich geschwärzte Dokumente – und auch das erst nach jahrelangem Rechtsstreit.
Die Dokumente machen deutlich: Die vom Grand Casino Baden angesetzten Limiten sind nichts wert.
Statt einer Sperre erhält sie Werbung für die «VIP-Lottery»
Deniz verdiente damals als Pflegeassistentin im Teilzeitpensum knapp 3000 Franken brutto im Monat. Vermögen hatte sie keines. Kaum hatte sie angefangen zu spielen, verlor sie innerhalb kurzer Zeit Summen, die ihr Monatsgehalt weit überstiegen. Die Limiten von Jackpots.ch hätten es zugelassen, dass sie innerhalb von 24 Stunden ihren halben Jahreslohn verspielt hätte. Erst bei 24'000 Franken Tagesverlust wäre der Schwellenwert erreicht worden.
Mehrere Tage hintereinander konnte sie jeweils rund 5000 Franken einzahlen – von verschiedenen Konten, mit verschiedenen Kreditkarten und über Twint. Niemand reagierte.
Statt ihre finanziellen Verhältnisse zu überprüfen, schickte ihr das Casino Werbemails und lockte mit einer «VIP-Lottery». Deniz spielte exzessiv, manchmal mehr als sieben Stunden am Stück.
Keine Verpflichtung zu intensiveren Abklärungen
Erst als Deniz innert vier Monaten mehr als ihr Jahresgehalt verspielt hatte – über 40’000 Franken Nettoverlust –, griff das Grand Casino Baden ein und sperrte sie.
Verstiess das Casino gegen das Gesetz, weil es die Spielerin nicht vor «exzessivem Spiel» schützte? Wahrscheinlich nicht, glaubt selbst Deniz’ Anwalt Manuel Bader: «Das Casino hat sich wohl an die eigenen Schutzkonzepte gehalten.» Das Casino sei nicht zu einer intensiveren Abklärung der Vermögensverhältnisse verpflichtet gewesen, schreibt ihm die Anwaltskanzlei, die das Casino vertritt.
Was meint die Aufsichtsbehörde dazu? «Der Gesetzgeber macht keine inhaltlichen Vorgaben bezüglich dieser Kriterien und legt insbesondere keine konkreten Schwellenwerte fest, bei deren Erreichung die Spielbanken Abklärungen treffen oder Personen vom Spielbetrieb aussperren müssen», schreibt die Eidgenössische Spielbankenkommission auf Anfrage des Beobachters. Es sei an der Spielbank selbst, «die von ihr definierten Kriterien und vorgesehenen Massnahmen periodisch auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen».
Im Klartext: Die Aufsichtsbehörde findet, es sei nicht ihre Aufgabe, den Casinos auf die Finger zu schauen.
Genau darüber kann Glücksspielforscher Tobias Hayer nur den Kopf schütteln. «Wenn die Casinos selber Regeln aufstellen, gibt es offensichtliche Interessenkonflikte.» Er fordert, dass Aufsichtsbehörden auf Grundlage aktueller Forschungserkenntnisse verbindliche Vorgaben machen. Insbesondere für Schwellenwerte, die automatische Sperren auslösen.
Viel zu hohe Limiten
Hayer betont, dass die Limiten sonst von den Casinos, wie im Fall von Elmira Deniz, «viel zu hoch» angesetzt würden. «Wenn die Limiten dann noch bei jedem Casino von neuem beginnen, kann man sie gleich ganz vergessen.» In Deutschland könne man maximal 1000 Euro pro Monat bei legalen Online-Glücksspielanbietern einzahlen.
Elmira Deniz weiss nicht, wie es weitergehen soll. Sie ist dabei, ihre Schulden abzustottern. Und sie möchte Schadenersatz. Ein Schlichtungsversuch vor dem Friedensrichter endete jedoch erfolglos. Sie erhielt daraufhin zwar eine Klagebewilligung, die noch bis Juli gültig ist. Aber: Eine Zivilklage kann sie sich nicht leisten.
Weil das Verfahren offiziell noch läuft, nimmt das Grandkasino Baden zum Fall nicht Stellung.