Herr McLaren, Sie sind in Zürich, um beim «2. Summit on Ethics and Leadership in Sports» über das Staatsdoping in Russland zu sprechen. Haben Sie darauf überhaupt noch Lust, nachdem das Internationale Olympische Komitee aufgrund Ihres Berichts den Ausschluss der russischen Sportler von Olympia in Rio an die Sportverbände abgeschoben hat?
Richard McLaren: Dass ich hier darüber spreche, ist keine Frage der Lust. Mein Auftrag war ja, als Leiter einer unabhängigen Gruppe zu untersuchen, ob das stimmt, was seit Ende 2014 dank Whistleblowern und einer ARD-Dokumentation über Doping-Praktiken in Russland an die Öffentlichkeit gedrungen war. Ich hatte nicht den Auftrag, den Sportorganisationen eine Empfehlung abzugeben, sondern nur die Fakten zu prüfen und allenfalls weitere vorzulegen. Das haben wir gemacht. Der Report vom 18. Juli war allerdings erst ein erster Teil. Wir stecken noch mitten in unserer Arbeit.
Dennoch – aufgrund Ihres Berichts haben die Paralympiker Russland komplett von Rio ausgeschlossen, das IOC dagegen nicht. Welchen Entscheid haben Sie lieber gesehen?
Es ist klar, dass ich dazu meine persönliche Meinung habe, aber die behalte ich für mich, gebe sie sicher nicht über die Medien bekannt. Ich will nur so viel sagen: Am Tag, nachdem ich Mitte Juli unseren unabhängigen Untersuchungsbericht präsentiert hatte, haben führende Leute des Paralympic Komitees mit mir Kontakt aufgenommen und über die Situation Russlands gesprochen. Von der IOC-Spitze hat sich dagegen bis heute noch niemand direkt bei mir gemeldet.
Der grösste Doping-Skandal der Geschichte ist nur dank Whistleblowern wie dem Ehepaar Stepanow oder dem früheren Labor-Chef Rodschenkow und hartnäckigen Journalisten aufgeflogen. Der Antidoping-Weltagentur WADA und ihren Kontrolleuren ist dagegen nichts aufgefallen. Heisst das, dass die konventionelle Bekämpfung von Doping gescheitert ist?
Die Doping-Bekämpfung hat sicher Schaden genommen. Ihre Glaubwürdigkeit und damit die Glaubwürdigkeit des Sports stehen auf dem Spiel. Ich bin aber überzeugt, dass es das herkömmliche Kontrollsystem braucht und dass damit auch in Zukunft Betrüger aus dem Verkehr gezogen werden können. In speziellen Situationen sind Informationen von Whistleblowern, der Polizei oder des Zolls allerdings sehr wertvoll, um Betrügern oder ganzen Netzwerken auf die Spur zu kommen. Das haben ja auch die Doping-Skandale um Balco (USA, die Red.) oder die Operacion Puerto (Spanien, die Red.) und der Fall Armstrong gezeigt.
Mit dem Knacken der vertraulichen WADA-Datenbank «Adams», wo jeder Sportler seinen jeweiligen Aufenthaltsort sowie persönliche Daten über seine Gesundheit, allfällige Krankheiten und damit verbundene therapeutische Massnahmen bekannt geben muss, hat der russische Doping-Skandal in den letzten Wochen neue Dimensionen angenommen. Sind Sie überrascht?
Überrascht bin ich insofern nicht, als überall, wo mit Computern gearbeitet wird, das Risiko eines Hacker-Angriffs besteht. Mich schockiert es allerdings, wie unsensibel und verantwortungslos jetzt von vielen Medien intime Daten von Sportlern und deren Krankheiten verbreitet werden.
Aber es fällt schon auf, dass zahlreiche Sportler – auch viele Olympiasieger – Medikamente nehmen dürfen, die eigentlich auf der Dopingliste stehen.
Dafür hat die WADA ja die «Ausnahme-Bewilligung zu therapeutischen Zwecken» geschaffen. Man darf doch nicht junge Leute, die von Geburt auf zum Beispiel unter Diabetes oder Asthma leiden, generell vom Sport ausschliessen. Die Erteilung dieser Ausnahme-Bewilligungen ist allerdings an strenge Vorgaben gebunden. Sie muss von neutralen Spezialisten und Ärzten regelmässig überprüft werden, um sicher zu sein, dass diese Art von Therapie notwendig ist.
Kann das nicht als «Schlupfloch» für verbotene Leistungssteigerung benutzt werden?
Das will ich tatsächlich nicht ausschliessen. Darum verfolgen Antidoping-Organisationen und Sportverbände die Sache mit den «Ausnahme-Bewilligungen zu therapeutischen Zwecken» sehr genau. Vor allem, wenn in gewissen Ländern oder Sportarten plötzlich eine auffällige Häufung von ähnlichen Krankheits- und Therapie-Bildern auftritt. Deshalb ist es auch gut, dass wir heute die Möglichkeit haben, fehlbare Ärzte, Physiotherapeuten oder Trainer juristisch zu verfolgen, wenn sie Sportlern «falsche», medizinisch nicht notwendige Ausnahme-Bewilligungen ausgestellt haben. Es ist heute möglich, einem fehlbaren Arzt die Arbeitsbewilligung zu entziehen.
Sie haben gesagt, dass Ihr im Juli vorgelegter Report nur ein erster Teil Ihrer Untersuchung ist. Wie geht Ihre Arbeit weiter? Wann folgen neue Fakten?
Im Moment liegt der Schwerpunkt beim Wintersport. Wir wollen die Fakten rund um das Doping-Labor von Sotschi mit verschwundenen oder manipulierten Dopingproben in einem nächsten Report präsentieren, möglichst bevor die Wettkampfsaison beginnt. Aufgrund dieses Berichts müssen die einzelnen Sportverbände dann entscheiden, was mit den bereits an Russland vergebenen kommenden Grossanlässen wie Welt- oder auch Europameisterschaften passiert.
Wann sind Sie mit Ihrer Arbeit überhaupt fertig?
Das ist schwer zu sagen. Es geht dabei nicht um Tage oder Wochen – es wird sicher noch Monate dauern. Die Nachkontrollen der Dopingproben früherer Olympischen Spiele sind immer noch im Gang und daraus können sich ja noch neue Fakten ergeben.
Und wann, schätzen Sie, ist Russlands Sport wieder «sauber»?
Das dauert Jahre. Dafür braucht es einen Kulturwandel – nicht bloss im Sport, sondern in der ganzen Gesellschaft. Anzeichen für ein Umdenken erkenne ich erst sehr zögerlich. Im Sport gilt immer noch vielerorts das Motto: Gewinnen, um jeden Preis – das Business maximieren. Dabei ist Sport für junge Leute doch auch eine wichtige erzieherische Massnahme. Diese wird bei der heutigen Professionalisierung kaum mehr wahrgenommen.
Sie sind ein bekennender Fussball-Fan. Werden Sie von den Russen als Zuschauer an die WM 2018 nach Russland eingeladen?
(lacht) Das weiss ich nicht – wohl kaum. Vielleicht schaue ich die Spiele halt zu Hause am Fernseher …