Herr Brigger, was war morgens um sechs bei Ihnen los?
Jean-Paul Brigger: Um sechs Uhr hat der Wecker geläutet. Ich habe danach in den News gehört, was vorgefallen war. Das ist halt so, wenn man bei der Fifa arbeitet. Kurz vor den Wahlen platzt meistens irgendeine kleine Bombe. Man gewöhnt sich daran. Nach 15 Jahren Fifa überrascht mich das nicht allzu sehr. Wenn du solche Schlagzeilen nicht erträgst, bist du hier am falschen Ort.
Sie waren also nicht schockiert?
Schockierend ist, wenn ein Familienmitglied schwer erkrankt. Oder wenn jemand stirbt.
Wann trafen Sie Sepp Blatter?
Am Vormittag im Büro. Uns reicht ein Blick. Da weiss man, wie der andere denkt. Und wie er fühlt. Wir Walliser haben eine raue Sprache, aber ein weiches Herz.
Also war er gelaunt wie immer?
Es ist sicher nicht der Höhepunkt seines Lebens. Und es ist nicht so, dass er in einer solchen Situation Spässchen macht. Er weiss: Ich bin der Kapitän des Schiffs, jetzt gebe ich die Richtung vor. Er hatte in seinem Büro schon das Topmanagement um sich geschart und erteilte klare Aufträge. Ich habe nie einen Menschen erlebt, der in solchen Momenten derart stark ist. Wir sind Bergler, wir Walliser sind vielleicht aus anderem Holz geschnitzt. Wenn die Lawine kommt, kannst du nicht lange überlegen, ob du nach links oder nach rechts gehst.
Eine reine Mentalitätssache?
Wir leben einfach mit Naturgewalten im Wallis. Neben Lawinen gibt es Erdrutsche, wenn es zu viel regnet. Aber wir sind Kämpfernaturen, wir Walliser überleben immer. Ohne diesen Willen kannst du nicht in den Bergen leben. Und ohne diesen Willen kannst du nicht bei einem Weltkonzern wie der Fifa arbeiten. Was Sepp betrifft, vergleiche ich das immer mit einer Tour aufs Matterhorn.
Wie meinen Sie das?
Wenn du hochsteigst, musst du leiden. Auf 2000 Metern, auf einer Alp kannst du grillieren und trinken, es lustig haben. Auf 4000 Metern wird die Luft dünner, du musst dich mehr anstrengen. Wenn du aber auf dem Gipfel bist, pfeift und windet und stürmt es. Wenn du lange da oben bleibst, musst du ganz viel ertragen. Fifa-Präsident, das ist das Höchste im Fussball.
Sepp Blatter wirds aber nicht vom Gipfel der Macht wehen, oder?
Er bleibt einfach immer ruhig. Er kann einstecken wie kein anderer. Aufgeben, das gibt es für ihn nicht. Und Tiefschläge zu kassieren, gehört auch zu seinem Job. Aber die Fifa ist ein weltumspannender Konzern: Wenn du zwei Kinder hast, kannst du sie vielleicht noch kontrollieren. Aber hast du acht, zehn, zwölf oder vierzehn – dann kannst du nicht immer alle im Griff haben.
Was treibt ihn an, sich mit 79 nochmals für vier Jahre wählen zu lassen?
Er ist geboren für diesen Job. Wenn deine Firma weltweit als korrupt dargestellt wird, brauchst du eine unglaubliche Energie. Er hat sie immer noch. Es ist sein Leben. Und zum Alter will ich sagen: Der Maler Hans Erni hat bis 106 Jahre gearbeitet. Hätte man ihm verbieten sollen, ab 80 zu malen? Kein Mensch hat das Recht, dem anderen zu sagen, wann er aufhören soll.
Also könnte Blatter noch 27 Jahre Fifa-Präsident bleiben.
(lacht) Das ist jetzt so eine Journalistenfrage. Schauen Sie: Wenn wir Freitagabend nach Australien fliegen und am Montag zurück sind, sitzt Sepp als Erster im Büro morgens um sieben und ist der Fitteste von uns. Und er kennt von der Walliser 5. Liga bis zur Premier League alle Resultate – er sagte mir sogar, wie meine Söhne beim FC St. Niklaus in der 3. Liga gespielt hatten ... Und der soll aufhören? Sorry, nein. Aber in der Schweiz darfst du einfach nicht zu erfolgreich sein. Du kannst es niemandem recht machen.
Das heisst konkret?
Wir akzeptieren hier grade mal Roger Federer, dem wir zujubeln. Aber sonst gönnt man es niemandem. Bei Sepp ist es auch so. Er ist mit Barack Obama, Wladimir Putin oder Angela Merkel zusammen. Er hat Kontakte, die nicht mal der höchste Schweizer Politiker hat. Das passt nicht ins Schweizer Schema. Und sein Manko ist, dass man ihn nicht richtig kennt. Er liebt die Leute.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Selbst wenn er den grössten Stress hat und am Empfang ein Kind oder eine Familie nach ihm fragt, geht er jederzeit für ein Foto in die Lobby. Immer. Er geht mit Obama gleich um wie mit dem Mann auf der Strasse. Das beeindruckt mich. Und das schätze ich auch an ihm als Freund.
Sagen Sie ihm auch direkt die Meinung?
Das ist so, ja. Andere erstarren halt manchmal vor Ehrfurcht. Ich kann ihm unter vier Augen alles sagen. Und meistens reicht ein Halbsatz, damit wir uns verstehen.
Sie schauen oft zusammen Spiele. Wie schaut er Fussball?
Ganz ruhig. Er analysiert. Bei sich zu Hause kann er sich entspannen, das ist sein Rückzugsort. Bei mir kann er einfach sein – als Mensch, als Freund.