Helikopterflug über das Unglücksgebiet im Maggiatal
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Video vom Sommer 2024:Helikopterflug über das Unglücksgebiet im Maggiatal

Neun Monate nach der verheerenden Unwetter-Katastrophe mit mehreren Toten
Das Bavonatal ist auferstanden

Im Sommer 2024 brachte ein Unwetter Tod und Verwüstung ins Tessin. Nun ist die Strasse ins Bavonatal wieder offen – und bei den Bewohnern keimt Hoffnung.
Publiziert: 27.04.2025 um 10:50 Uhr
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Aktualisiert: 29.04.2025 um 12:08 Uhr
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Strasse der Hoffnung: Seit Mitte April ist das Bavonatal wieder geöffnet. Die Strasse führt über den Schuttkegel bei Fontana TI.
Foto: MASSIMO PEDRAZZINI

Darum gehts

  • Unwetter im Bavonatal: Im Juni 2024 forderte ein Erdrutsch mehrere Todesopfer
  • Folgen der Zerstörung: Traumata bei den Bewohnern, aber auch grosse Solidarität
  • Preisverleihung «Landschaft des Jahres» mit Bundesrat Albert Rösti am 24. Mai
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Peter AeschlimannRedaktor

«Dieses Haus hat uns das Leben gerettet.» Cordula Huber (61) sitzt am Steintisch ihres Rusticos in Mondada TI. Sie zündet sich eine Zigarette an. Neun Monate nach jener Nacht, die alles veränderte. Damals, am 29. Juni 2024, als das Wasser und die Steine kamen.

Das Unheil lag buchstäblich in der Luft: Saharastaub hing am Nachmittag schwer und gelb über dem Tessin – ein apokalyptisches Vorzeichen: «Wir spürten, dass sich etwas zusammenbraut», berichtet Huber. Am Nachmittag begann es zu tröpfeln, aus dem Tröpfeln wurde heftiger Regen, irgendwann wollte der Hund nicht mehr raus. Gegen Mitternacht entlud sich die Gewitterzelle über dem Tal: Hunderte Blitze, dahinter eine Wasserwand, ohrenbetäubender Lärm.

Um 1 Uhr morgens ging der Alarm los. Auf dem Handy ploppte der Hinweis von Alertswiss auf: Weg von den Gewässern, ja nicht in die Keller! Cordula Huber fragte sich: «Wo soll ich denn hin?» Ihre Freundin Maria Ammann (37) schlief im Zimmer nebenan. Dann kam das Beben. «Wie auf einer Waschmaschine» habe sich das angefühlt, das alte Steinhaus aus dem 18. Jahrhundert zitterte – aber es hielt. Huber: «In dem Moment hatte ich Todesangst.»

Was sie nicht wusste: Wenige Meter neben ihrem Feriendomizil, drüben in Fontana, frass ein gewaltiger Erdrutsch eine Schneise durchs Dorf. Felsen, gross wie Einfamilienhäuser, donnerten zu Tal. Drei deutsche Touristinnen verloren ihr Leben. Das Bild des zerstörten Hauses mit dem aufgerissenen Schrank, in dem noch Kleider hängen, geht auch Cordula Huber nicht mehr aus dem Kopf.

Neuen Mut gefasst

Am nächsten Morgen wurden sie von Rotorenlärm geweckt. Der Blick nach draussen zeigte eine andere Welt: überall Geröll, der Wald war weg, ihre beiden Autos ebenso. Dann hiess es, man habe zehn Minuten, das Nötigste in den Rucksack zu packen … und schon hingen die beiden Frauen an einem Seil des Rettungshelikopters, der sie nach Cevio talabwärts flog. Zwölf Stunden später war Huber wieder in Zürich. Erst dort wurde ihr das ganze Ausmass des verheerenden Unwetters bewusst.

«Danach war ich traumatisiert», sagt Cordula Huber. Nachts wachte sie schreiend im Bett auf, spürte ein inneres Zittern. Inzwischen geht es ihr besser. Die Versicherung wird die Schäden am Haus übernehmen, die das Beben am alten Gemäuer verursacht hat. Es gibt viel zu tun – und es gilt, neuen Mut zu fassen. Huber weiss: Das Haus, das seit 2021 in ihrem Besitz ist, hat sie beschützt. Seit Mitte April ist das Bavonatal wieder offen, über den Schuttkegel führt eine eilends errichtete Strasse. Das Leben geht weiter.

Fast wie früher

Auch weiter oben, in Foroglio. Dort betreiben Martino Giovanettina und seine Frau Sara die Osteria alpina La Froda. Als der Wirt und Schriftsteller vor ein paar Tagen endlich wieder über die Brücke gehen durfte, die zum Restaurant führt, fühlte er sich hier seit 35 Jahren erstmals seltsam fremd. Er musste sich erneut an das Tosen des Wasserfalls gewöhnen, an die feuchte Luft und den kalten Wind. Jetzt ist alles wieder fast wie früher. Wanderer nehmen Platz im Freien, geniessen Polenta und Bergkäse, ein Reisecar aus Deutschland kurvt vorbei.

Bald finden im La Froda auch wieder kulturelle Veranstaltungen statt. Konzerte, Ausstellungen, Literaturabende. Und Giovanettina wird am 14. Juni sein neues Buch vorstellen. Es heisst: «La notte delle pietre folli», die Nacht der verrückten Steine. Das Leben in den Bergen hat ihn schon immer beschäftigt. Wie die Natur den Takt vorgibt, die Landschaft manchmal auf brutale Weise verändert, seit Jahrhunderten schon.

Was er hier im La Froda geschaffen habe, finde man auf keiner Karte, sagt Giovanettina: «Es existiert hauptsächlich in den Köpfen der Menschen». Das Lokal sei ein Seelenort, mehr als nur ein simples Grotto. Ein offener Berg, der allen gehöre. Deshalb sei die Solidarität in der Bevölkerung auch so gross gewesen nach den Unwettern, die Foroglio einen Sommer lang von der Aussenwelt abgeschnitten hatten. Nun hofft Giovanettina, dass die Strasse offen bleibt. «Wenn man das Bavonatal schliesst, ist es ein totes Tal.»

Metamorphose eines Tals

Auf der Strasse durchs Maggiatal machen Plakate Werbung für eine Ausstellung, die gestern Samstag in Cevio Vernissage feierte: «Metamorfosi di una valle», die Verwandlung eines Tals. Es geht um den Bau der Staudämme in den 50er-Jahren, die Nutzung der Wasserkraft.

Auch das Jahrhundertunwetter im Juni 2024 hat die Landschaft neu geformt. Wie das Leben hier weitergehen soll, ist Thema eines Projekts, das die betroffenen Gemeinden und die Stiftung Bavonatal lanciert haben. Mit breiter Mitwirkung soll eine kollektive Vision für die zukünftige Landschaft entstehen. Doch zunächst wird gefeiert: Das Valle Bavona empfing jüngst von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz die Auszeichnung «Landschaft des Jahres». Am 24. Mai findet die Preisverleihung in Cavergno statt. Bundesrat Albert Rösti (57) wird dabei sein.

Neue Realität

Lorenzo Dalessi, Präsident der Fondazione Valle Bavona: «Der Zusammenhalt ist stark in diesen Tälern.» Zum Zustand vor dem Ereignis zurückzukehren, sei weder möglich noch sinnvoll. Zu viel Material sei verschoben worden, zu stark habe sich die Landschaft verändert. Nun liege die Herausforderung darin, aus der Veränderung eine Chance zu machen. Der Respekt vor solchen Naturkatastrophen werde bleiben, sagt Dalessi. Das sei auch richtig so: «Die Zunahme extremer Wetterlagen ist leider kein hypothetisches Szenario mehr, sondern Realität. In den Alpen – und anderswo.»

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