Darum gehts
Es heisst, dass heute mehr Kinder und Jugendliche an ADHS oder psychischen Problemen wie Angststörungen oder Depressionen leiden. Auch Erschöpfung und Schulstress sollen zugenommen haben. Stimmen Sie dem zu?
Oskar Jenni: Wir sehen bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich einen starken Anstieg von psychischen Erkrankungen und Entwicklungsstörungen. Nicht nur in der Schweiz, sondern auf der ganzen Welt. Die Kindheit befindet sich in einer Krise.
Viele geben dafür Social Media die Schuld.
Das ist falsch. Damit suggeriert man, es gebe eine einfache Lösung für ein hochkomplexes Problem: Man verbietet einfach die sozialen Medien – und alles wird gut. Aber so funktioniert das nicht.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Handyverbote bringen also nichts?
An den Schulen sind Regeln wichtig, keine Frage. Aber digitale Medien einfach zu verbieten, hilft nicht weiter. Zudem entmündigt es die Kinder und die Jugendlichen, weil man ihnen die Chance nimmt, einen gesunden Umgang damit zu lernen. Handys sind nicht die Ursache der Krise, sie verstärken lediglich die tiefer liegenden Probleme.
Sie verstärken die Krise der Kindheit?
Ja, ich sehe vier Gründe dafür: Erstens belegen zahlreiche Studien, dass der Leistungs- und Perfektionsdruck in den letzten dreissig Jahren stark gestiegen ist. Schule bedeutet für viele Kinder heute vor allem Stress. Dazu kommt der Individualisierungsdruck. Alle müssen einzigartig sein und möglichst gut performen.
Und sonst?
Die Welt wird mit der Klimakrise und Kriegen immer unsicherer. Das ist der zweite Grund: Wir erleben tiefgreifende politische und technologische Umbrüche, die viele Erwachsene verunsichern – und dies überträgt sich direkt auf die Kinder und die Jugendlichen.
Aber gibt es nicht auch einfach mehr Diagnosen, weil wir mehr über psychische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen wissen?
Das ist mein dritter Grund. Wir wissen heute viel mehr darüber. Es gibt mehr Fachpersonen, präzisere Diagnostik und bessere Unterstützungsangebote. Das führt zwar zu mehr Diagnosen, ist aber auch eine positive Entwicklung – denn früher litten viele Kinder still und unerkannt.
Und der letzte Aspekt?
Jugendliche sind heute viel früher körperlich erwachsen, ihre psychosoziale Reife erreichen sie jedoch erst Anfang 20 oder noch später. Eine solche Diskrepanz gab es in der Geschichte der Menschheit noch nie und verunsichert viele Jugendliche.
Wie äussert sich das?
Junge Erwachsene ziehen heute viel später von zu Hause aus, sie trinken weniger Alkohol, werden später sexuell aktiv, sie riskieren ganz generell weniger.
Das ist nicht per se schlecht.
Nein. Aber dieser Trend ist Ausdruck davon, dass der Druck und die Unsicherheiten bei den Jugendlichen angekommen sind. Darauf reagieren sie in der ohnehin sensiblen Phase der Adoleszenz mit mehr Vorsicht und psychischen Krisen. Mädchen sind übrigens stärker betroffen als Jungen.
Weshalb?
Durch die Gleichstellung erwarten wir heute, dass Mädchen genauso leistungsstark sind wie Jungen. Doch gleichzeitig bestehen traditionelle Rollenerwartungen. Dieser doppelte Anspruch führt zum sogenannten Superwoman-Effekt: Mädchen müssen in allen Bereichen perfekt sein.
Seit wann lässt sich diese Entwicklung beobachten?
Bis in die 1970er-Jahre standen Disziplin und Gehorsam im Vordergrund. Erst als man realisierte, wie sehr Kinder und Jugendliche unter der fehlenden emotionalen Zuwendung litten, kam es zu einem Umdenken. Jedes Kind galt neu als einzigartig – anfangs eine echte Befreiung. Heute hat sich dieser Individualisierungstrend ins Gegenteil verkehrt. Viele leiden unter dem Druck, besonders und einzigartig sein zu müssen.
Was brauchen denn Kinder wirklich?
Diese Frage beschäftigt mich sehr. Auf der Grundlage unserer Langzeitstudien, die wir seit den 1950er-Jahren durchführen, kann man die «fünf G» beschreiben: Kinder brauchen Geborgenheit in Beziehungen, Gesundheit in Körper und Psyche, Gelegenheiten zum Lernen, Grenzen als Orientierung und eine Gemeinschaft mit anderen.
Was heisst das konkret?
Geborgenheit entsteht, wenn Eltern emotional präsent sind. Zur psychischen Gesundheit gehört, dass die Kinder lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Viele Kinder haben heute Mühe damit, weil Eltern ihnen alles abnehmen. Kinder brauchen auch die Chance, eigene Erfahrungen zu machen – auch wenn das manchmal bedeutet, zu scheitern. Sie brauchen klare Grenzen zur Orientierung und auch Gemeinschaften, in denen sie sich aufgehoben fühlen. Wir wollen doch alle einfach dazugehören.
Klingt einfach, ist es aber nicht.
Elternschaft ist eine Herausforderung, das sage ich auch aus persönlicher Erfahrung. Man muss die Ängste, den Kontrollverlust, auch gelegentlich Frustrationen mit den Kindern aushalten können.
Stehen auch die Eltern unter einem grösseren Druck als früher?
Ja, das zeigen viele Umfragen. Auch Eltern spüren den Leistungsdruck und die Unsicherheit angesichts globaler Krisen – und das wirkt sich auf ihre Beziehung zum Kind aus. Gleichzeitig hat sich die Gesellschaft weitgehend aus der Erziehung zurückgezogen. Früher war ein Kind in ein Netz von Beziehungen eingebunden mit Lehrpersonen, Pfarrer oder Nachbarn, die mitverantwortlich waren. Heute liegt die gesamte Last der Erziehung ausschliesslich bei den Eltern.
Wie sollen sie mit diesem Druck umgehen?
Wir müssen uns bewusst sein, dass wir Eltern weniger Einfluss haben, als wir denken. Den Bildungserfolg unserer Kinder können wir nur begrenzt steuern. Meine Botschaft an die Eltern ist: Ihr müsst nicht perfekt sein. «Good enough» genügt. Wenn etwas schiefläuft, dann versucht man, es das nächste Mal besser zu machen – aber man sollte daran nicht verzweifeln.
Aber ist Bildung denn nicht entscheidend für die Zukunft der Kinder?
Aus britischen und unseren Langzeitstudien wissen wir: Der Bildungsweg in der Kindheit ist weniger wichtig für die spätere Zufriedenheit im Leben als die Beziehungen und das psychische Wohlbefinden.
Das psychische Wohlbefinden meines Kindes kann ich als Mutter oder als Vater aber nicht steuern.
Nein, aber Sie können versuchen, die «fünf V» zu leben: vertraut, verlässlich, verfügbar, verständnisvoll und voller Liebe zu sein. Mehr braucht es nicht. Ich weiss, das ist leichter gesagt als getan – aber Elternsein ist nun mal ein grosses Abenteuer, durch das wir als Mutter oder Vater jedoch wachsen können.
Worauf kommt es jetzt an?
Wir müssen den elterlichen Druck anerkennen und die Eltern nicht für alles verantwortlich machen. Als Gesellschaft sollten wir auch den Druck auf Kinder gezielt verringern. Etwa durch den Verzicht auf Noten in der Primarschule, ein Überdenken der frühen Fremdsprachen und Selektion oder durch gemeinsam mit den Kindern entwickelte Regeln im Umgang mit digitalen Medien. Denn Kinder brauchen das Gemeinschaftliche und weniger Fokussierung auf die individuelle Leistung. Mir liegt sehr am Herzen, dass die Gesellschaft Kindheit nicht nur als eine Phase sieht, die wir möglichst rasch hinter uns bringen sollten.
Was meinen Sie mit «nicht nur eine Phase»?
Die Kindheit ist auch ein Zustand mit einem ganz eigenen Wert. Das Kind soll die Kindheit erleben dürfen. Denn eines ist sicher: Die Kindheit geht vorbei – und sie kommt nie wieder zurück.
Eltern sorgen sich um ihr Kind und wollen eine Abklärung machen, andererseits möchten sie vielleicht nicht, dass es mit einer Diagnose etikettiert wird.
Mit Diagnosen muss man vorsichtig sein. Sie können helfen, wenn dadurch eine Therapie ermöglicht und finanziert wird. Es besteht aber die Gefahr, dass Kinder damit stigmatisiert werden. Etwa wenn man ihnen wegen der Diagnose plötzlich weniger zutraut.
Für die Eltern ist das ein heikler Spagat.
Wenn Eltern Sorgen haben, dann sollen sie sich Rat bei einer Fachperson holen. Oft ist gar keine Diagnose nötig, sondern vor allem ein gutes Verständnis für das Kind, für seine Stärken und Schwächen.
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