80 Jahre Kriegsende – Historiker Sacha Zala (56) erklärt
«Stalin hegte einen gewaltigen Groll gegen die Schweiz»

Vor 80 Jahren kapitulierten die Deutschen. Die Schweiz konnte endlich aufatmen. Historiker Sacha Zala (56) erklärt im Interview, warum sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen schwierigen Stand hatte. Und wie sie das bis heute prägt.
Publiziert: 04.05.2025 um 11:04 Uhr
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Aktualisiert: 04.05.2025 um 14:38 Uhr
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Sacha Zala ist Geschichtsprofessor an der Universität Bern und hat sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit befasst.
Foto: Philippe Rossier

Darum gehts

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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft

Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Tags zuvor hatte Nazi-Deutschland im französischen Reims kapituliert, nun erwachte die Welt aus einem Albtraum – mit über 50 Millionen Toten, davon sechs Millionen jüdische Opfer des Holocausts. Die Schweiz blieb fast unversehrt. Was bedeutete der Tag? Und wie ging es für sie nach Kriegsende weiter? SonntagsBlick hat mit Sacha Zala, Geschichtsprofessor der Universität Bern, darüber gesprochen.

Wie reagierte die Schweizer Bevölkerung auf den Sieg der Alliierten?
Die Freude im Volk war riesig. Die Kirchenglocken läuteten. Die Leute feierten und gingen nicht mehr zur Arbeit. Der Unterricht fiel aus. Die Menschenmengen frohlockten und schwenkten Schweizer und Alliierten-Fähnchen. Alle waren erleichtert.

Die neutrale Schweiz war ja am Krieg gar nicht beteiligt. Warum die überschwängliche Freude?
Spätestens ab Juni 1940 war es für die Schweizer Bevölkerung schwierig. Mit dem Angriff der Wehrmacht auf Frankreich und Italiens Kriegseintritt war die Schweiz von den Achsenmächten umzingelt. Im Landesinneren gab es deshalb eine starke Disziplinierung. Im Radio sprach Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz von Anpassung an die neuen Verhältnisse. Seit Herbst 1939 waren Esswaren rationiert, die Armee mobilisiert. 1945 glaubten die Menschen an einen Aufbruch. In Wahrheit ging für den Bundesrat der Krieg weiter.

Freudenmarsch auf Lausannes Strassen am 8. Mai 1945.
Foto: Keystone

Inwiefern?
Während des Kriegs hatte der Bundesrat Vollmachten, er regierte im Alleingang. Nach Kriegsende hatte er keine Lust, die Macht freiwillig abzugeben. Es brauchte eine Volksinitiative im Jahr 1949, um die direkte Demokratie wiederherzustellen.

Am 8. Mai 1945 verbot die Landesregierung, alliierte Flaggen zu hissen. Das Bundeshaus blieb dunkel. Warum spielte sie die Bedeutung des Kriegsendes herunter?
Wegen der Neutralität, was sonst! Für die Alliierten waren die Neutralen Schurkenstaaten. Ausländische Kritik konterte man mit einer absoluten Überhöhung der Neutralität: Weil wir neutral sind, konnten wir gar nicht anders, als mit Nazi-Deutschland zu wirtschaften. Also galt es 1945, den Kopf unten zu behalten.

Sacha Zala

Der 56-jährige Historiker ist Professor an der Universität Bern und Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis), des Kompetenzzentrums für die Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik und der internationalen Beziehungen der Schweiz. Zala wuchs im Puschlav auf und studierte in Bern und an der University of North Carolina. Er lebt in Bern.

Philippe Rossier

Der 56-jährige Historiker ist Professor an der Universität Bern und Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis), des Kompetenzzentrums für die Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik und der internationalen Beziehungen der Schweiz. Zala wuchs im Puschlav auf und studierte in Bern und an der University of North Carolina. Er lebt in Bern.

Neutralität macht nur in Kriegszeiten Sinn, der Krieg war aber vorbei.
Eben! Aber weil die Schweiz am Krieg gar nicht beteiligt war, vollzog sich für sie der Übergang zum Kalten Krieg praktisch nahtlos. Der Bundesrat hat sehr früh erkannt, dass es zwei Blöcke geben wird. Der Kalte Krieg gab der Neutralität wieder einen Sinn. Für sie opferte der Bundesrat einiges.

Woran denken Sie?
1945 hätte man leicht sagen können: Wir waren keine Nazi-Freunde. General Guisan hatte gar geheime Pläne mit dem französischen Armeekommando getroffen, Schweizer Offiziere vermittelten die Kapitulation der Wehrmacht in Norditalien. Wir haben viel Gutes getan. Wir hatten Carl Lutz, den Vizekonsul in Budapest, der 60’000 Jüdinnen und Juden rettete. Gut, später zeigte sich, dass er nicht unproblematisch war.

Ein Schweizer Soldat nach 1939 auf dem Mont Fort im Wallis.
Foto: Keystone

Carl Lutz sah Schwarze als minderwertig an und begrüsste die Segregation – Sie haben ein Dokument dazu publiziert.
Ja. Und er wollte nach Kriegsende unbedingt den Friedensnobelpreis erhalten. Er wollte überall seine Heldengeschichte erzählen. Doch der Bundesrat verbot es ihm.

Warum mischte sich der Bundesrat überhaupt ein?
Carl Lutz hat die Wehrmacht beschissen. Das ist nicht neutral. Das würde bedeuten, dass sich die Schweiz nicht an die Neutralität gehalten hätte.

Wie kommt es, dass sich die Schweiz ständig hinter der Neutralität versteckt?
Lange glaubte ich, es ginge der Schweiz nur ums Geld. Der Erste Weltkrieg hat etwas anderes gezeigt. Das Land war damals fast auseinandergebrochen. 1919 wurde die Neutralität zum Kitt der Nation, um die verschiedenen Landesteile zu einen. Die Neutralität war das, womit sich alle identifizieren konnten. Hinzu kommt: 1945 hatte die Schweiz zwei Weltkriege unversehrt überstanden. Man schloss daraus: Die Neutralität funktioniert. Natürlich hatte das nichts miteinander zu tun: Belgien war auch völlig neutral, wurde aber zwei Mal besetzt!

Nach Kriegsende gab es zwei Supermächte. Wo stand die Schweiz?
Die offizielle Schweiz stand vor grossen Problemen. Mit den USA waren die Beziehungen sehr frostig, mit den Sowjets war es völlig verdorben.

So dramatisch?
Ja. Während der Oktoberrevolution 1917 haben die Bolschewiki schweizerisches Eigentum eingesackt. Die Schweiz kam nicht darüber hinweg. 1934 war die Schweiz allein mit zwei anderen Ländern gegen die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund. Bundesrat Giuseppe Motta hielt in Genf eine flammende Rede dagegen: Die Kommunisten haben die Kirchen zerstört, die Familie, das Privateigentum – sie fressen die Kinder!

Hält sich oft in Archiven auf: Der Historiker Sacha Zala.
Foto: Philippe Rossier

Liess sich Stalin das gefallen?
Stalin tobte. Er hegte einen gewaltigen Groll gegen die Schweiz. Während des Zweiten Weltkriegs versuchte er sogar, die Westalliierten dazu zu bringen, über die Schweiz Deutschland anzugreifen.

Wie standen die Amerikaner zur Schweiz?
Sie haben während des Kriegs gemerkt, dass die Schweiz mit Nazi-Deutschland Deals macht. Die Nazis konnten für eine Milliarde Franken in der Schweiz auf Pump einkaufen. Das war die Clearingmilliarde. Nach der Kriegswende kamen die Amerikaner nach Bern und sagten: Hey Leute, jetzt ist fertig mit dem Handel mit den Achsenmächten! Die Schweiz kam bestialisch unter Druck. Seit 1941 hatten die Amerikaner die Schweizer Guthaben in den USA eingefroren. Sogar das Gold der Schweizer Nationalbank.

Wie manövrierte sich die Schweiz aus der Sackgasse heraus?
Mit den USA gab es 1946 das Washingtoner Abkommen. Die Schweiz willigte ein, 250 Millionen Dollar Bussgelder für die Deals mit deutschem Raubgold zu zahlen. Um das Gesicht zu wahren, sagte der Bundesrat, das sei der schweizerische Beitrag zum Wiederaufbau Europas. Damit war es für die Amerikaner erledigt.

Und was war mit Stalin?
Im Kalten Krieg hatte Stalin schliesslich auch ein Interesse daran, die Beziehungen mit der Schweiz zu normalisieren. Aber er verlangte eine Demutsgeste. Eine Entschuldigung. Der Bundesrat feilschte dann lange an einer Formulierung, mit der er sein Gesicht wahren konnte.

2013 wurden Sie einem breiten Publikum bekannt, weil Sie in der «Tagesschau» sagten, dass die Asylpolitik während des Zweiten Weltkriegs «deutlich rassistische Elemente» beinhaltete. Warum wies die Schweiz Juden ab?
Der Bundesrat anerkannte die Juden nicht als Flüchtlinge. Er wollte eine «Überfremdung» und «Verjudung» vermeiden. Eindeutig antisemitisch.

Die Bergier-Kommission kam zum Schluss, dass rund 25’000 Menschen deshalb keinen Schutz erhalten haben.
Ich habe nie verstanden, warum sich die Bergier-Kommission auf das Zahlenspiel einliess. Über Zahlen kann man genüsslich streiten, ohne das Wesentliche zu sehen: Der Bundesrat hat die Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen. Punkt.

Anbauschlacht: Vor dem Bundeshaus ernten Männer 1944 Kartoffeln.
Foto: Keystone

Anfang Jahr veröffentlichte ein Historiker neue Zahlen, die niedriger ausfallen.
Die Behörden führten keine kohärenten Statistiken über die abgewiesenen Flüchtlinge. Die Situation an der Südgrenze war komplett anders als an der Nord- oder Westgrenze. Wir müssen damit leben, dass wir manche Fragen nie genau klären können. Fest steht: Der Bundesrat wollte jüdische Flüchtlinge nicht aufnehmen, obwohl er vom Massenmord wusste.

Und nach dem Krieg?
Da war es nicht besser. Die Schweiz sah sich nur als Transitland. Viele Flüchtlinge, auch Holocaust-Überlebende, sollten das Land rasch verlassen. Aber der Antisemitismus war nicht der einzige Grund für das Argument «Das Boot ist voll».

Was sonst noch?
Gemäss dem Haager-Abkommen von 1907 muss die Schweiz als neutraler Staat Soldaten internieren, die über die Grenze kommen. Über 100’000 Personen waren es im Zweiten Weltkrieg. Nicht zuletzt auch wegen dieser Neutralitätsverpflichtung sagte man bei den Zivilpersonen: Stopp. Das erinnert mich an etwas, jetzt werde ich polemisch. 2022 hat der Bundesrat es abgelehnt, ukrainische Kriegsverwundete in der Schweiz zu pflegen. Wegen des Neutralitätsrechts.

Führen Sie das bitte aus.
Wenn man verwundete Soldaten hier im Spital pflegt, müsste man sie dann gemäss dem Haager-Abkommen bis Kriegsende internieren. Man stelle sich vor: Ukrainer-Camps in der Schweiz!

Ein weltweiter Skandal. Die Schweiz geht schlecht mit Kritik um. Man denke nur an den Aufruhr anlässlich der nachrichtenlosen Vermögen. Wie beurteilen Sie das?
1996 kritisierte US-Senator Alfonse D’Amato die Schweizer Banken, die objektiv beschissen haben. Die Banken, nicht die Schweiz! Doch jeder und jede hierzulande war plötzlich im Krieg mit den USA. Wenn D’Amato das Gleiche in Italien gemacht hätte und man einen Neapolitaner interviewt hätte, dann hätte er gelacht und gesagt: Natürlich, Banker sind Halunken! Nicht so in der Schweiz. Wir reagieren immer äusserst pikiert auf Kritik aus dem Ausland.

Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wir leiden unter dem Klassenbesten-Syndrom. Wir haben latent ein schlechtes Gewissen, weil es uns so gut geht. Daher wollen wir alles mustergültig, perfekt machen, um ja nicht angreifbar zu sein. Bei der kleinsten Kritik flippen wir dann aus. Wir wären gut beraten, etwas gelassener zu sein.

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