«Die Schweiz ist keine Demokratie»
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Nationalrätin Anna Rosenwasser:«Die Schweiz ist keine Demokratie»

Zu Besuch bei Anna Rosenwasser
Die SP-Nationalrätin zeigt ihr Zuhause – und ihre Liebe

2023 wurde die Zürcherin völlig überraschend ins Parlament gewählt – heute ist SP-Frau Anna Rosenwasser die bunteste Nationalrätin der Schweiz. Warum ihre Art zu politisieren, aneckt, und wie ihr Partnerin Florina den Rücken stärkt.
Publiziert: 05.08.2025 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 05.08.2025 um 07:16 Uhr
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Anna Rosenwasser zu Hause in Zürich. «Ich mag Rosa. Mädchenhaft, aber gleichzeitig rebellisch zu sein, ist für mich kein Widerspruch.»
Foto: Fabienne Bühler

Darum gehts

  • Anna Rosenwasser: Queere Aktivistin und Autorin im Nationalrat angekommen
  • Vermittelt Politik humorvoll über soziale Medien für junge Menschen
  • 50.000 Follower auf Instagram, zwei gesellschaftskritische Bücher verfasst
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Jessica Pfister
Schweizer Illustrierte

Die Liebe ist sicht- und spürbar in der Altbauwohnung von Anna Rosenwasser (35) und ihrer Partnerin Florina Diemer im Zürcher Kreis 5. An den Wänden hängen Post-its mit Liebesbotschaften und verschmuste Fotos des Paars aus dem Schwarz-Weiss-Automaten mit einer pinken Notiz «8 Jahre».

Die beiden Frauen sitzen am Esszimmertisch und zeichnen gegenseitig ihre Herzchen-Tattoos auf den Handgelenken nach, während sich Kater Minou auf dem Parkettboden räkelt. «Der einzige Mann im Haus. Zahlt nie Miete, aber verlangt trotzdem jeden Tag sein Futter», scherzt Rosenwasser und krault ihn am Bauch.

50'000 «Büsis»

«Büsis, ich bin gewählt.» Das schrieb die heute 35-Jährige am 22. Oktober 2023 auf Instagram. Die «Büsis», wie Rosenwasser ihre 50'000 Followerinnen und Follower nennt – da «liebevoll und geschlechtsneutral» –, haben die queere Aktivistin und Autorin vom 20. Listenplatz in den Nationalrat gehievt. Eine Sensation! «Meine Kandidatur war ein Beitrag gegen rechts. Ich hatte mit keiner Faser meines Körpers mit dieser Wahl gerechnet», erzählt Rosenwasser rückblickend.

Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Darum nahm sie sich eineinhalb Tage Zeit, um sicherzugehen, dass sie das Mandat wirklich will. Was schweizweit für Schlagzeilen und Empörung in den Kommentarspalten sorgte. «Ich finde es unglaublich, dass skandalisiert wird, wenn eine geoutete junge Frau mit jüdischem Namen sich so ein exponiertes Amt wohl überlegt.»

Ungeschminkte Anleitungen

Nun hat Rosenwasser die siebte Session hinter sich und sagt: «Ich bin angekommen.» Während sie sich anfangs noch im Bundeshaus verlaufen hat, macht sie heute «Bundes-Büsi-Touren» für ihre Anhängerschaft. «Ich möchte jene ansprechen, die nicht auf einen Bundeshaus-Rundgang gehen würden, weil sie sich dort fremd vorkämen.» So macht Rosenwasser auch Politik: Über die sozialen Netzwerke begeistert sie junge Menschen, die sich grundsätzlich nicht für Parteien und Parlamente interessieren.

Wohnen seit sechs Jahren zusammen. «Wir sind nicht nur ein Paar, sondern auch beste Freundinnen», sagt Rosenwasser.
Foto: Fabienne Bühler

Vor der rosa Wand, die Florina für sie gestrichen hat, erklärt sie ungeschminkt am Sonntagmorgen, wie man die Abstimmungsunterlagen ausfüllt, oder filmt, wie am Ende der Session im Nationalrat die Deckel der Abstimmungsknöpfe zugeschlagen werden. «Ich vermittle Politik so, wie ich es auch gern gehabt hätte. Dazu gehört auch Humor», sagt Rosenwasser, die Journalismus, Politikwissenschaften und Geschichte studierte.

Florina Diemer (35) besucht ihre Partnerin während der Sessionen einmal pro Woche in Bern. «Am Anfang habe ich extra ein Hemd angezogen, jetzt nehme ich es lockerer», sagt sie schmunzelnd. Die Tontechnikerin lernte auch alle wichtigen politischen Begriffe. «Ich will ja nicht jedes Mal nachfragen, wenn mir Anna am Abend etwas erzählt.» – «Und ich weiss dafür, was ein XLR-Kabel ist», sagt Rosenwasser. Die beiden lachen.

«Flo ist immer für mich da. Auch damals am Wahltag wich sie nicht von meiner Seite, als ich nur noch wie ein Roboter funktionierte. Sie ist pragmatisch und gleichzeitig sehr liebevoll.» Diemer motivierte Rosenwasser schon früh, sich auf einer grösseren Bühne zu engagieren – etwa für die Geschäftsleitung der Lesbenorganisation LOS. «Ich wusste: Sie kann das!»

Die Krawatte war ein Geschenk von Florina. Fürs korrekte Binden nehmen sie ein Youtube-Video zu Hilfe.
Foto: Fabienne Bühler

Durch Diskriminierung politisiert

Aufgewachsen ist Rosenwasser in Flurlingen im Zürcher Weinland. Die Mutter ist Schweizerin, der Vater Israeli. «Ich habe jüdische Wurzeln, bin aber Atheistin.» Der Vater verliess die Familie, als Anna zwölf Jahre alt war. «Meine Mutter hat mich und meine drei jüngeren Brüder alleine grossgezogen. Sie arbeitete sowohl in der Pflege als auch in der Gastronomie, um uns ein gutes Leben zu bieten.»

Als Kind sei sie eine Aussenseiterin gewesen. «Ich habe vor allem gelesen, wollte immer Schriftstellerin werden.» Doch in der Schule hiess es stets, das sei unmöglich. Darum studierte sie Journalismus und arbeitete zehn Jahre bei den «Schaffhauser Nachrichten». Heute hat Rosenwasser zwei gesellschaftskritische Bücher mit intimen Einblicken in ihr Regenbogen-Leben verfasst. Für ihre Beiträge in der «Republik» wurde sie kürzlich zur Kolumnistin des Jahres gekürt.

Bis Anfang 20 war Rosenwasser mit Männern zusammen. «Es gab keine Figuren, die mir das Gefühl gegeben haben, dass auf Frauen zu stehen, überhaupt eine Option für mich war.» Das habe sich durch das Lesen feministischer Literatur über sexuelle Selbstbestimmung verändert – und als sie vor acht Jahren Florina kennenlernte. «Wir wollten eigentlich beide keine Beziehung, aber es passte einfach zu gut.» Erfahrungen und Diskriminierung haben sie dann auch politisiert. «Ich dachte immer, ich wüsste viel über Homophobie. Richtig eingefahren ist es mir erst, als ich händchenhaltend mit Flo auf der Strasse gelaufen bin. Wie die Leute uns anstarren, Wahnsinn!»

Auch im Parlament spürt sie, dass sie auffällt, obwohl sie sich dort formell kleidet. «Ein SVP-Nationalrat sagte mir kürzlich, ich hätte keine politischen Inhalte. Ironischerweise just zu dem Moment, als Tausende Followerinnen mein Video zum Sessionsrückblick anschauten.»

«Büsis können Krallen ausfahren, sind aber auch wahnsinnig herzig. Das passt zu mir.» Rosenwasser mit Kater Minou.
Foto: Fabienne Bühler

«Ich will verletzlich bleiben»

Ihre Art zu politisieren sei unorthodox, aber nicht weniger wichtig als die klassische Politik. Für Kritik sei sie offen – etwa als selbst linke Kolleginnen ihre Aussage «Ich interessiere mich vor allem für Lesben, die Sport machen» in Zusammenhang mit der Frauen-Fussball-EM hinterfragten. «Ich bin sicher: Bei einem Mann hätte die Aussage, eine Sportlerin sei attraktiv, keinen solchen Wirbel ausgelöst.»

Toleranz ist für Rosenwasser nicht nur ein Schlagwort. «Für mich ist es wichtig zu verstehen, warum Menschen eine andere Meinung haben.» Darum gehöre es für sie im Bundeshaus eben auch dazu, zuzuhören und nicht nur ans Rednerpult zu stehen.

Ein dickeres Fell zuzulegen, wie es ihr manche Politikerinnen rieten, kommt für Rosenwasser nicht infrage «Ich will verletzlich bleiben.» Aber sie habe gelernt, wie sie sich während der Sessionen Sorge tragen kann. Und dass ihre rosa Welt ihr Kraft gibt für den nächsten Einsatz in Bern.


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