So tickt das höchste Gericht
«Meine Damen und Herren, das Bundesgericht. Bitte stehen Sie auf!»

Wie geht es eigentlich dem höchsten Gericht im Jubeljahr 2025? Der Beobachter macht einen Hausbesuch – und spricht mit Insidern.
Publiziert: 28.08.2025 um 17:40 Uhr
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Das Bundesgericht in Lausanne ist 150 Jahre alt geworden – ein Blick hinter die Kulissen.
Foto: OBS/BUNDESGERICHT/SWISSSTAFFING

Darum gehts

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Daniel Faulhaber
Beobachter

Der Hauptsitz des Bundesgerichts in Lausanne, gerade 150 Jahre alt geworden, ist eine einzige steingewordene Überwältigung. Die riesige Freitreppe, die hochschiessenden Säulen. Wie andere neoklassizistische Prunkbauten vermittelt auch diese den Eindruck von Macht und Stabilität.

Unter dem Giebel prangen drei Worte. Lex, Justitia, Pax. Das ist Latein für Gesetz, Recht, Frieden. Was ist das noch mal, ein Gericht im Jahr 2025?

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Zunächst einmal sind da diese Häuser, sozusagen der Anzug der Justiz. Der Hauptsitz steht in Lausanne, ein Zweitsitz in Luzern. Insgesamt 40 Richterinnen und Richter arbeiten dort, 25 Männer und 15 Frauen, und der Chef heisst aktuell François Chaix. Wir kommen auf ihn zurück.

Und dann ist da die Chiffre: das höchste Gericht. Damit ist weniger der konkrete Ort gemeint, sondern eine finale Entscheidung – und hier haben wir im Jubeljahr 2025 bereits ein Problem.

Justiz unter Druck

Denn die Politik fummelt zunehmend in die finale Entscheidung hinein, was zumindest auf dem internationalen Parkett – Beispiel USA, Beispiel Polen, Beispiel Ungarn – zu einer gefährlichen Gemengelage aus erster, zweiter und dritter Gewalt führt.

Gerichte sind immer beides. Orte. Und Chiffren. Die Orte in Lausanne (13. und 14. September) und Luzern (6. September) laden bald zu Tagen der offenen Tür ein, und die Öffentlichkeit wird sich bei dieser Gelegenheit vielleicht einmal ansehen wollen, wie es dort aussieht, am Gericht. Über das Feinstoffliche – die Chiffre – hat der Beobachter schon vorher gesprochen, und zwar mit jenen, die sich auskennen.

Einem angehenden Anwalt. Einer Journalistin. Dem höchsten Gerichtsdiener, Weibel genannt. Und dem Schweizer Bundesgerichtspräsidenten, François Chaix.

In François Chaix’ Büro in der zweiten Etage des Bundesgerichts stehen sämtliche Leitentscheide rot eingebunden im Regal. Der Blick aus dem Fenster geht über den Lac Léman.

Der Bundesgerichtspräsident der Schweiz wird immer für eine Amtsdauer von zwei Jahren gewählt.
Foto: Julien Chavaillaz

François Chaix, sind Sie als Bundesrichter vor politischer Einflussnahme sicher?
Ich sehe keine Anzeichen für eine Politisierung der Justiz. Was mir mehr zu denken gibt, ist die Flughöhe, auf der wir und unsere Gerichtsschreiber uns teilweise bewegen müssen. 7493 Fälle gingen vergangenes Jahr beim Bundesgericht in Lausanne ein. Da ging es manchmal um Verkehrsbussen von 40 Franken. Ich hätte gerne mehr Zeit für Grundsatzfragen.

Richter müssen aber ein Parteibuch haben.
Dass wir als Richterinnen und Richter einer Partei angehören müssen, um gewählt zu werden, wird oft kritisiert. Die Wahl der Richterinnen und der Richter unter Berücksichtigung der politischen Topografie des Landes hat sich jedoch bewährt. Man kann uns Richtern zum Beispiel nicht vorwerfen, dass wir alle links seien, wie das in Frankreich oft zu hören ist. In England sagt man den Juristen gerne nach, sie seien alle Mitglieder einer alten Elite. Auch wir hören Vorurteile. Dass wir alle im Elfenbeinturm sitzen, zum Beispiel. Aber dass wir gleichgeschaltet sind, gehört nicht dazu. 

Bewährt sich das System?
Im Ausland wird die Schweiz um ihre stabile Justiz beneidet. Die Gewaltenteilung funktioniert – und wird zugunsten der Gerichte erweitert. Seit 2007 kann das Bundesgericht über Konflikte im Zusammenhang mit eidgenössischen Wahlen entscheiden. Es kann zum Beispiel prüfen, ob die Wahl des Nationalrats korrekt war. Das stärkt die Position des Bundesgerichts als Wächter der Demokratie.

Über 5000 Gesetze gibt es in der Schweiz, dazu kommen andere Rechtstexte wie Erlasse, Verträge oder Verordnungen. Man könnte annehmen, die Schweiz ist bis ins Atom durchreguliert. 

Stimmt aber nicht. Und hier kommt das Bundesgericht ins Spiel. Es legt Leitlinien fest, an denen sich die unteren Instanzen dann orientieren. Sämtliche Urteile des Bundesgerichts werden auf der Website publiziert. Von Beratungen mit hoher öffentlicher Relevanz gibt es gar Videoaufzeichnungen. 

Dort kann man dem Chefweibel Jérôme Eltschinger bei der Arbeit zusehen. «Meine Damen und Herren, das Bundesgericht. Bitte stehen Sie auf», sagt er dann und winkt mit einer strengen Handbewegung auch die Besucher auf der Tribüne aus ihren Stühlen heraus. Eltschinger trägt eine waldgrüne Galauniform mit goldenen Knöpfen. 

«Sehr geehrte Damen und Herren, das Bundesgericht. Bitte stehen Sie auf.» Jérôme Eltschinger achtet am Bundesgericht auf die Form.
Foto: Julien Chavaillaz

Warum so formell, Herr Eltschinger?
Wir sind hier am höchsten Gericht der Schweiz, und das darf man spüren. Dazu gehört beispielsweise die Sicherheitsschleuse am Eingang, das Publikum im Saal sitzt immerhin in der Nähe der Bundesrichter. Das Aufstehen zu Beginn der Beratung ist eine Frage des Respekts. Diese Abläufe dienen letztlich dazu, dem Öffentlichkeitsprinzip eine Form zu geben.

Wie wird man Chefweibel am Bundesgericht?
Ich habe Latein und Griechisch studiert, eine Kochlehre und die Hotelfachschule in Genf absolviert. Danach habe ich zwischenzeitlich als Butler für eine europäische Königsfamilie gearbeitet sowie in einem Luxushotel und als Empfangschef in einer Klinik in Montreux. Als ich vor 14 Jahren das Inserat für die Stelle am Bundesgericht sah, erwog ich einen Karrierewechsel – und bekam den Job. Hier sind ähnliche Qualitäten gefragt wie in der Hotellerie. Diskretion. Diplomatie. Eine professionelle Distanz. Es braucht Dienstleistungen von höchster Qualität.

Wie viele Tonnen Papier hieven Sie pro Jahr durch die Gänge?
Das ist unmöglich zu sagen. Ein paar Tonnen sind es sicher. Auch wenn die meisten Richterinnen und Richter die Dossiers mittlerweile digital einsehen und bearbeiten.

Dann öffnet Eltschinger die eisernen Flügeltüren zum Herz des Bundesgerichts in Lausanne. Der Gerichtssaal. Täfer, Marmor, Würde. Hier wird Recht gesprochen, und zwar buchstäblich dann, wenn sich die Richterinnen und Richter nicht auf ein Urteil einigen können. Dann wird öffentlich beraten. Parteien, Medien, Besucherinnen sind da, und am Ende entscheiden die fünf Richter per Handaufheben. 

Sieg vor Bundesgericht

Anruf bei einem, der so eine Beratung persönlich erlebte. Dem angehenden Anwalt Elias Studer, Fallnummer 1C_350/2024, beraten am 21. Mai 2025. Weil ein Mann einen Autounfall gebaut hatte, verwehrte ihm der Bund die anstehende Einbürgerung für Jahre. Studer und der Wirt wehrten sich. Das Bundesgericht gab ihnen recht. 

Wie ist das, vor Bundesgericht zu gewinnen, Herr Studer?
Am Tag der öffentlichen Beratung war ich nervös. Aber auch hoffnungsvoll, denn ich wusste: Entweder der Fall würde die Einbürgerungspraxis verändern. Oder auf einen politischen Missstand aufmerksam machen. Die Beratung im Saal war dann für mich nicht leicht zu ertragen, insbesondere weil einer der fünf Richter komplett an der Sache vorbeiargumentierte. Beruhigend war, dass andere Richter das differenziert und eingehend konterten und dass unsere Argumente gehört wurden.

Und wie ist es ausgegangen?
Mittlerweile habe ich das schriftliche Urteil erhalten. Ich hätte mir zum Teil mehr Klarheit gewünscht. Aber in diesem politisch brisanten Thema wollte sich das Bundesgericht womöglich nicht exponieren. Spannend ist, dass die Sache mit drei zu zwei Stimmen knapp ausging. Das zeigt, wie zufällig so ein Ergebnis sein kann. Und wie entscheidend es ist, wie sich das Gericht zusammensetzt.

Der Fall zeigt exemplarisch, wie das Bundesgericht in den Alltag hineinwirkt. Bundesgericht gegen Bund – die Medien lieben solche Fälle. Hier wird fassbar, was Gewaltenteilung bedeutet, und das ist aus demokratiepolitischer Sicht ein Ereignis. Denn dass auch der Staat nicht frei von Fehlern ist, wird selten deutlicher dargestellt als durch einen Entscheid am Bundesgericht. 

Das Bundesgericht geniesse gemäss Umfragen beispielloses Vertrauen, berichtet SRF. «Es steht besser da als die Politik.»

Die Chronistin der dritten Gewalt

Und damit zu Sibilla Bondolfi. Die SRF-Journalistin ist seit zwei Jahren Bundesgerichtskorrespondentin, aber kennt das Haus schon seit ihrer Zeit als Jus-Studentin in Bern. Sie ist sozusagen Auge und Ohr der Öffentlichkeit am Gericht und kennt auch die Schattenseiten der Institution. 

Sibilla Bondolfi, was war der grösste Skandal in der jüngeren Geschichte des Bundesgerichts?
Da muss ich fast die Spuckattacke des ehemaligen Bundesrichters Martin Schubarth (SP) auf einen Journalisten der NZZ nennen, der mehrfach kritisch über ihn berichtet hatte. Nach diesem Vorfall in der Eingangshalle des Bundesgerichts trat Schubarth 2003 zurück. Er wurde dann Professor an der Uni Bern. Ich habe bei ihm studiert und muss sagen: Wir Studierenden mochten ihn sehr. 

Haben Sie noch andere Anekdoten?
Als Studentin habe ich es ausserdem zweimal erlebt, dass Bundesrichter während öffentlicher Beratungen einschliefen. Das gibt es heute nicht mehr. Es wird gestritten und provoziert. Manchmal verdreht jemand die Augen. Aber insgesamt scheinen mir die Richterinnen und Richter viel engagierter und besser vorbereitet als damals. Das hat meiner Meinung nach auch mit der wachsenden öffentlichen Wahrnehmung der Justiz zu tun. Man will sich auf Seiten der Richterinnen und Richter keine Blösse geben.

Wer den Gerichtssaal in Lausanne verlässt und Tritt für Tritt alle Stufen hinuntersteigt, hat irgendwann den See im Blick und den Wächter der Demokratie im Rücken. Lex, Justitia, Pax. Die Sonne brennt. Die Richterinnen und Richter kennen diesen Blick, diesen Gang, die weite, alles durchdringende Ernsthaftigkeit dieses Orts.

Im Park auf der anderen Strassenseite sind zwei Volieren untergebracht. Dort tschilpen im Schatten der Bäume grellbunte Paradiesvögel um die Wette. Kakadus, Zebrafinken, Sittiche. Ein paar Yogis halten sich unweit davon am Stamm einer Zeder fest. Ein Paar liegt im Gras auf dem Rücken. Alltag im Schatten der dritten Gewalt.

Die neoklassizistische Architektur soll dem Bundesgericht in Lausanne ein Gefühl von Macht und Würde verleihen.
Foto: Julien Chavaillaz
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