Schweizer Botschafterin über Tragödie in Gaza
«Israel muss die Blockade unverzüglich aufheben»

Monika Schmutz Kirgöz ist im EDA für die Region von Marokko bis Iran zuständig. Ein Gespräch über Empathie im Nahost-Konflikt, Zoff mit Bundesrat Cassis – und Kopftuch-Diplomatie.
Publiziert: 25.05.2025 um 10:04 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2025 um 18:18 Uhr
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Die Schweiz erwartet von Israel «Empathie für die Menschen im Gazastreifen», sagt Monika Schmutz Kirgöz.
Foto: IMAGO/APAimages

Darum gehts

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Raphael RauchBundeshausredaktor

Frau Botschafterin, sind Sie Cassis’ Geheimwaffe für eine Mission, die zum Scheitern verurteilt ist?
Monika Schmutz Kirgöz:
Militärsprache passt leider zum Zeitgeist – wenn schon, dann sind wir Diplomatinnen und Diplomaten ein ganzes Waffenarsenal. Und dieses Waffenarsenal kann ganz viel und leistet sehr gute Arbeit. Sehen Sie nur, was in den letzten Wochen alles erreicht wurde.

Im Nahen und Mittleren Osten wurde nichts erreicht.
Dafür waren wir in Genf Gastgeberin für die Gespräche zwischen den USA und China. Die Schweiz ist nach wie vor als Vermittlerin gefragt. Je stiller, ruhiger und zurückhaltender wir vorgehen, desto mehr können wir als glaubwürdige Vermittler wirken.

Ist die Schweizer Diplomatie wirklich leise – oder nicht einfach indifferent, zum Beispiel in Gaza?
Wir sind nicht indifferent. Unsere Haltung ist klar. Wir haben schon letzte Woche in einer Stellungnahme geschrieben: «Israel muss die Blockade unverzüglich aufheben.» Wir haben die israelische Botschafterin in Bern einbestellt und ihr dies auch direkt gesagt.

Trotzdem stellt sich die Frage: Was macht die Schweiz? Bundesrat Cassis hat eine Erklärung von 22 Aussenministern zur Situation in Gaza nicht unterschrieben.
Wir teilen die Erklärung in weiten Teilen, aber bei einem Detail gibt es noch Fragezeichen. Es geht um ein neues amerikanisches Konzept für die Lieferung von Hilfsgütern, welches das israelische Sicherheitskabinett gebilligt hat. Hierzu gibt es bislang nicht genügend Informationen.

Wenn sogar Deutschland als enger Partner Israels die Erklärung unterzeichnen konnte: Ist die humanitäre Schweiz nicht unglaubwürdig?
Wir setzen uns auf allen Ebenen ein. Der Bundesrat hat am Mittwoch beschlossen, die Region mit 20 Millionen Franken zu unterstützen, allein 9 Millionen kommen den Menschen in Gaza zugute.

Haben Sie sich mit Ihrem Chef gezofft, weil er den Brief nicht unterschreiben wollte?
Wir haben eine sehr gute Gesprächskultur. Wir sind uns nicht immer einig und unser Departementsvorsteher erwartet von uns, dass wir andere Sichtweisen einbringen.

Micheline Calmy-Rey hätte lauter agiert. Macht es sich die Schweizer Aussenpolitik mit ihrer leisen Art nicht zu bequem?
Wir sind nicht bequem. In einer immer lauter und aggressiver werdenden Welt erreichen wir aber mehr, wenn wir leise und ruhig handeln, als wenn wir den Lautsprecher nutzen.

Israelische Soldaten haben in Dschenin einen Warnschuss auf Diplomaten abgegeben. Hat die Schweiz protestiert?
Ja, die Schweiz hat Israel aufgefordert, das internationale Recht und die Wiener Konventionen zu respektieren, die den Schutz von diplomatischem Personal vorsehen.

Sie waren kürzlich in Israel und im Westjordanland. Wie haben Sie die Situation erlebt?
Ich habe früher in Tel Aviv gearbeitet und erkenne Israel fast nicht wieder. Der 7. Oktober hat das Land fundamental verändert, das Land ist traumatisiert. Die Fronten sind verhärtet. Menschenrechtsaktivisten, die sich für den Dialog mit den Palästinensern einsetzen, werden angefeindet. Das war früher anders, die Zivilgesellschaft war viel aktiver.

Und jetzt?
Ich konnte eine Aktivistin treffen, die ich von früher kannte und die das Hamas-Massaker auf dem Nova-Festival überlebt hat. Sie setzt sich trotz allem für den Frieden mit den Palästinensern ein. Solche Stimmen machen Hoffnung.

Was sagen Sie den israelischen Regierungsvertretern?
Wir haben Empathie für das Trauma der israelischen Gesellschaft und fordern die Freilassung aller Geiseln – wir erwarten aber auch Empathie für die Menschen im Gazastreifen. Und wir beobachten mit Sorge, was in der Westbank passiert. Es gibt Uno-Agenturen, die von De-facto-Annexion sprechen. 40'000 Palästinenser wurden umgesiedelt.

Und was antwortet Ihnen die israelische Regierung?
Sie nimmt das zur Kenntnis. Dass internationaler Druck etwas bewirken kann, können wir diese Woche sehen: Israel lässt wieder Lieferungen in den Gazastreifen zu. Allerdings viel zu wenige, um die enormen Bedürfnisse zu befriedigen.

Sprechen wir über Syrien. Wie gehts dem Land?
Bis auf das historische Zentrum von Damaskus ist Syrien fast vollständig zerstört und muss von Grund auf aufgebaut werden. Vor Ort hat mich der Enthusiasmus der Bevölkerung überrascht. Ich habe mich in Syrien vor allem mit Frauen unterhalten und von Frau zu Frau gefragt: «Habt ihr keine Angst vor Fundamentalisten?» Die Antwort war: «Nein! Wir haben 50 Jahre Assad-Regime überlebt, wir haben keine Angst mehr und wir werden auch das jetzt überleben!»

Hat Ihnen der syrische Aussenminister die Hand gegeben?
Nein, er hat die Situation aber sehr elegant gelöst: Er hat niemandem im Raum die Hand gegeben. Wir haben eineinhalb Stunden miteinander gesprochen und wir hatten direkten Augenkontakt. Manche Muslime haben Mühe, einer Frau in die Augen zu schauen. Mit dem syrischen Aussenminister war das kein Problem: Wir haben intensiv miteinander diskutiert.

War es ein Fehler, dass die Schweiz 2012 die Botschaft in Damaskus geschlossen hat?
Es steht mir nicht zu, das zu bewerten. Das Assad-Regime hat uns lange nicht verziehen, dass wir als neutrales Land die Botschaft geschlossen haben. Es hat mich später als Botschafterin im Libanon viel Aufwand gekostet, wieder einen Kanal nach Damaskus aufzubauen. Mittlerweile sind wir mit einem humanitären Büro in Damaskus vertreten.

Sie sind auch für die Beziehungen zum Iran verantwortlich. Warum finden die Gespräche zwischen Teheran und Washington im Oman statt – und nicht in der Schweiz?
Iran hat sich gewünscht, dass die Gespräche in der Region stattfinden. Unsere Analyse lautet: Der frühere Deal wurde weitgehend in Europa verhandelt, nun soll es in der Golfregion sein. Sie können aus meiner Antwort schliessen, dass die USA durchaus für eine andere Lösung offen waren.

Kostet es Sie Überwindung, im Iran ein Kopftuch anzuziehen?
Nein. Ich weiss ja, dass das die Gepflogenheiten sind. Die iranischen Regierungsgebäude müssen wegen der Sanktionen Energie sparen. Mir war ein bisschen kalt, das Kopftuch hat da etwas gewärmt. Im Übrigen sind in Teheran mittlerweile viele Frauen ohne Kopftuch im Strassenbild zu sehen – ein kollektiver Akt der Ungehorsamkeit!

Hat es auch Vorteile, als Frau in einer patriarchalen Kultur aufzutreten?
Nennen Sie mir bitte eine Kultur, die nicht patriarchal ist! Spass beiseite: Es gibt in Spitzenpositionen immer noch wenige Diplomatinnen – das hat den Vorteil, dass man sich an uns erinnert. Trotz des globalen Backlash gegen Gleichstellungsbemühungen beeindruckt mich der rasante Wandel hin zur Normalität: In Tunesien und Marokko wurde ich als «Cheffe» angesprochen und auf den Namensschildern auch so bezeichnet. «Cheffe» ist eine helvetische Wortschöpfung, die es laut der Académie française gar nicht gibt.

Junge Männer aus dem Maghreb fallen mit Straftaten auf. Die Schweiz will diese schnell und konsequent abschieben. Was sagen Ihre Gesprächspartner, wenn Sie das zum Thema machen?
Das Thema ist bekannt, und wir leben in einer transaktionalen Welt. Für ein Rückführungsabkommen muss die Schweiz etwas anbieten, zum Beispiel Entwicklungshilfe oder wirtschaftliche Zusammenarbeit. Daran arbeiten wir im Rahmen der Migrationsaussenpolitik.

Gaza-Bewohner versinken im Abfall
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Katastrophale Zustände:Gaza-Bewohner versinken im Abfall
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