Darum gehts
- Nationalrat bleibt bei Individualbesteuerung auf Kurs
- Überparteiliche Frauengruppe erarbeitete neuen Kompromiss
- Neues Modell kostet Staatskasse jährlich rund 600 Millionen Franken
Der Streit um die Individualbesteuerung bleibt ein Krimi. Zwar haben sich beide Kammer für den Systemwechsel ausgesprochen, für Nervenkitzel sorgen nun aber die Details. Die Kiste war bisher derart eng, dass es auf jede Stimme ankommt. SP-Co-Fraktionschefin Samira Marti (31) reiste als frischgebackenes Mami sogar aus dem Mutterschaftsurlaub an, um die Vorlage am Mittwoch auf Kurs zu halten.
Das Resultat: Ein neuer Kompromiss der Pro-Allianz aus FDP, SP, Grünen und Grünliberalen. Die Steuertarife werden damit nochmals justiert, sodass der Anreiz zu einer Pensenerhöhung bestehen bleibt. Der Kinderabzug wird von heute 6700 auf 12'000 Franken erhöht. Neuster Kostenpunkt: rund 600 Millionen Franken. Die entscheidende Abstimmung fiel mit 101 zu 95 Stimmen zugunsten der Befürworter aus.
Damit ist eine weitere Hürde für den Systemwechsel genommen. Mit dem neuen Deal wird nämlich ein Streit innerhalb der Vier-Parteien-Allianz bereinigt. FDP und Linke gerieten sich nämlich ob der Frage in die Haare, was der Systemwechsel kosten darf. Die Anpassung der Steuertarife und Kinderabzüge ist mit happigen Steuerausfällen verbunden.
Frauengruppe erarbeitete Kompromiss
Der Bundesrat schlug zuvor ein Modell vor, welches die Staatskasse jährlich rund 870 Millionen Franken gekostet hätte. In einer ersten Runde schloss sich der Nationalrat diesem Modell an, die Linke aber nur zähneknirschend. Der Ständerat hingegen reduzierte die Ausfälle mit einer eigenen Variante auf rund 430 Millionen Franken. Damit war die FDP nicht zufrieden.
Ein Tanz auf der Rasierklinge. Denn beiden Versionen drohten in der Schlussabstimmung Abweichler-Stimmen in der Pro-Allianz und damit das Scheitern des gesamten Reformprojekts. Eine überparteiliche Frauengruppe aus FDP, SP, Grünen und GLP setzte sich daher nochmals zusammen, um sich auf eine gemeinsame Lösung zu einigen. Dieser Deal hielt nun stand.
«Gebot der Gerechtigkeit»
Die Individualbesteuerung sei ein Gebot der Gerechtigkeit und ein wichtiges gleichstellungspolitisches Ziel, sagte SP-Nationalrätin Céline Widmer (46, ZH). Die grosse Mehrheit der Steuerzahlenden profitiere vom neuen Tarif, nur wenige würden mehr berappen – und Letztere befänden sich in den obersten Einkommensklassen.
Grünen-Nationalrätin Franziska Ryser (33, SG) befand den nun eingeschlagenen Mittelweg als mehrheitsfähig. Die Mehrheit werde mit dem gestreckten Steuertarif entlastet. «Am meisten profitieren werden verheiratete Rentnerpaare.» Und GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy (45, GLP) rechnete vor, dass die Hälfte der Steuerpflichtigen entlastet werde, rund ein Drittel keine Änderung erfahre und nur 14 Prozent eine Mehrbelastung tragen müssten.
FDP-Nationalrat Beat Walti (56, ZH) sprach von einem «vernünftigen Kompromiss», der für mehr Steuergerechtigkeit zwischen Konkubinats- und Ehepaaren sorge. Damit sollen insbesondere Frauen einen Anreiz erhalten, stärker erwerbstätig zu werden. 40'000 bis 60'000 Vollzeitstellen könnten so mobilisiert werden, betonte Walti. Auch Finanzministerin Karin Keller-Sutter (61) stellte sich namens des Bundesrats hinter den neuen Kompromiss.
SVP und Mitte kämpfen dagegen an
Der Systemwechsel bleibt aber umstritten. SVP und Mitte lehnen die Individualbesteuerung grundsätzlich ab, weil sie dadurch das traditionelle Ehemodell benachteiligt sehen. Zwar wollen auch sie die Heiratsstrafe beseitigen, bevorzugen dafür aber andere Modelle.
Bestimmten Kategorien drohten Steuererhöhungen, ja gar «Steuerstrafen», warnte Mitte-Nationalrat Leo Müller (66, LU). «Am härtesten würde es Mittelstandsfamilien mit Kindern und traditioneller Rollenverteilung treffen.»
Zurück in den Ständerat
Als nächste Hürde wartet nun wieder der Ständerat, der sich in der Sommersession mit dem neuen Kompromiss befassen wird. Gut möglich, dass die kleine Kammer darauf einschwenkt.
Allerdings wird es auch hier eng: Die Pro-Allianz kann auf 23 Stimmen zählen – mit der Aberkennung des Sitzes von SP-Ständerat Simon Stocker (44, SH) ist ihr Vorsprung geschmolzen. SVP und Mitte kommen auf 22 Stimmen. Ein Abweichler im Pro-Lager reicht also schon, um die ganze Vorlage zu gefährden.
Volksinitiativen parat
Am Schluss entscheidet aber sowieso das Volk über den Systemwechsel. Kommt die Vorlage durch, ist das Referendum von konservativer Seite so sicher wie das Amen in der Kirche.
Fällt die Vorlage im Parlament jedoch durch, bringen die FDP-Frauen ihre Volksinitiative an die Urne, welche den ganzen Prozess ausgelöst hat. Der Nationalrat empfiehlt dieses Volksbegehren konsequenterweise zu Annahme: Mit 98 zu 96 Stimmen.
Hängig ist zudem eine Volksinitiative der Mitte. Gemäss dieser soll es für Verheiratete künftig zwei Steuerberechnungen geben. Einmal als Paar; und alternativ dazu, als wären sie unverheiratet. Der tiefere der beiden berechneten Steuerbeträge würde in Rechnung gestellt werden. Der Bundesrat lehnt die Initiative ab.