Darum gehts
- Shelley Berlowitz kritisiert Israels Kriegsführung und fordert aktivere Rolle der Schweiz
- Offener Brief von 80 Persönlichkeiten für stärkeres Schweizer Engagement im Gaza-Konflikt
- Krieg zählt 50'000 palästinensische und 2000 israelische Opfer seit 600 Tagen
Die Bibliothek in der Altbauwohnung von Shelley Berlowitz in Zürich Wiedikon ist auf den ersten Blick akkurat geordnet: jüdische Geschichte, kollektives Gedächtnis, palästinensische Geschichte. «Ich finde das passende Buch dennoch nur, wenn ich genau weiss, wo es steht», sagt die 69-jährige Historikerin schmunzelnd. Im Gespräch wird sie sehr schnell ernst.
Seit über 600 Tagen befinden sich noch 58 Israeli als Geiseln in der Hand der Hamas. Genauso lange kämpft Israel im Gazastreifen gegen die Terrororganisation. Der Krieg zählt auf palästinensischer Seite 50'000 Opfer, etwa 2000 Israeli sind gestorben. Was lösen diese Zahlen bei Ihnen aus?
Entsetzen. Es ist absolut unglaublich, dass dieser Krieg schon seit dem 7. Oktober 2023 dauert und es nach wie vor nur eine militärische Strategie gibt und keine politische. Es ist ein nie enden wollender Rachefeldzug der israelischen Regierung, bei dem nicht nur Zehntausende Menschen gestorben sind, sondern auch Lebensgrundlagen wie Spitäler, Schulen und Universitäten zerstört wurden.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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In einem offenen Brief fordern 80 Persönlichkeiten eine aktivere Rolle der Schweiz im Gaza-Konflikt. Federführend dabei ist auch die Organisation Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, bei der Sie Mitglied sind. Wie kam es zur Aktion?
Das Unbehagen über diesen Krieg ist mittlerweile in grossen Teilen der Bevölkerung angekommen – bis weit ins bürgerliche Lager hinein. Darum haben wir uns mit Swiss Humanity Initiative, Palestine Solidarity Switzerland und Amnesty International zusammengetan und den Brief aufgesetzt.
Politische Schwergewichte wie alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und Ruth Dreifuss gehören zu den Unterzeichnenden. Wie wichtig ist es, dass so bekannte Namen an Bord sind?
Es verleiht dem Brief Glaubwürdigkeit. Nicht weil die beiden bekannte Namen sind, sondern weil sie politische Erfahrung haben und den Nahostkonflikt kennen. Es sind aber auch Kulturschaffende wie Renato Kaiser, Wissenschaftler wie der Epidemiologe Marcel Tanner oder der Rabbiner Bar Ephraïm unter den Unterzeichnenden. Das zeigt die breite Abstützung.
Haben Sie von Bundesrat Ignazio Cassis eine Rückmeldung auf den Brief erhalten?
Mir ist bis jetzt keine bekannt. Der Bundesrat hat letzte Woche lediglich erneut ein Communiqué verschickt, in dem er eine Waffenruhe fordert. Das ist Symbolpolitik.
Der Druck auf Cassis steigt weiter. Nun fordern ihn 55 Ex-Botschafter auf, schärfer gegen die israelische Regierung vorzugehen und den Staat Palästina unverzüglich anzuerkennen.
Ich hoffe wirklich, dass die Schweiz endlich reagiert statt versucht, möglichst neutral zu bleiben. Die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konventionen und muss mit Nachdruck die Durchsetzung von deren Normen fordern. Wenn der Bundesrat weiterhin schweigt, macht er sich mitverantwortlich für das schreckliche Leid in Gaza.
Der Krieg startete mit dem Massaker der Hamas, bei dem Hunderte Zivilisten getötet oder entführt wurden. Hätte Israel denn gar nicht reagieren sollen?
Natürlich musste Israel reagieren. Aber nicht so! Ich bin ja keine militärische Strategin, aber mir kann niemand erzählen, dass die einzige mögliche Reaktion ist, Zehntausende Menschen umzubringen, Hunderttausende zu verletzen und Millionen obdachlos zu machen.
Die israelische Regierung sagt klar, dass man den Terror nur zerstören kann, wenn man die Hamas komplett auslöscht.
Es ist nicht möglich, die Hamas militärisch total auszulöschen, ohne den grössten Teil der Zivilbevölkerung auch auszulöschen. Man kann eine Ideologie nicht mit Waffen töten. Die Bedingungen müssen so verändert werden, dass die Hamas keine attraktive Option ist. Israel tut aber schon lange das Gegenteil – seit 1967 kontrolliert sie Millionen von Palästinensern, ohne ihnen jegliche Möglichkeit von politischer Mitwirkung zu geben.
Sie sind in Israel geboren.
Genau, in Tel Aviv. Meine Eltern haben eine kurze Zeit in Israel gelebt. Als ich drei war, sind wir nach Zürich zurückgekommen. Ich bin in einem zionistischen, modern-orthodoxen Elternhaus aufgewachsen. Für mich war klar, dass ich meine Zukunft in Israel sehe so wie viele meine gleichaltrigen Freundinnen und Freunde. Mit 18 bin ich ausgewandert und habe in Israel zwei Jahre Militärdienst geleistet. Das hat alles verändert.
Wieso?
Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Israel nichts falsch macht. Dass wir immer die Hand zum Frieden ausstrecken. Die Araber – damals sprach man noch nicht von Palästinensern – wollen uns aus unerfindlichen Gründen nicht, und wir müssen uns wehren. Im Militär merkte ich dann schnell, dass da irgendetwas nicht stimmen kann. Das Erste, was ich von einem Kommandanten, den ich eigentlich ganz nett fand, hörte, war: «Nur ein toter Araber ist ein guter Araber.» Darüber war ich als wohlbehütete junge Schweizerin total entsetzt. Und so begann ich mich schon während meines Studiums in Israel für eine Verständigung zwischen Israel und Palästina einzusetzen. Nachdem ein Cousin bei einem Attentat in Hebron getötet wurde, kam ich 1980 zurück in die Schweiz. Während meiner Dissertation über die palästinensisch-israelischen Dialoge in den 1990er-Jahren habe ich mich intensiv mit der palästinensischen Perspektive beschäftigt – und habe wahnsinnig viel dazugelernt.
Wann waren Sie zum letzten Mal in Israel?
Im Januar. Da habe ich alle meine Verwandten besucht, die Zeit hatten. Meine Tanten und Onkel, meine Cousinen und Cousins – und Freundinnen und Freunde. Und ich habe einfach mal zugehört.
Und was haben Sie gehört?
Viele in meiner Familie sind religiös und rechts eingestellt. Es herrscht eine wahnsinnige Erschöpfung. Die Männer – egal ob jung oder schon älter – müssen immer wieder ins Militär, sind traumatisiert, wenn sie zurückkommen. Zu Hause warten ihre Frauen mit den Kindern. Ein Cousin hat mir offen gesagt, er könne keine Empathie für die Leute in Gaza empfinden, sondern müsse für seine Familie sorgen. Ein anderer meinte, ich hätte recht damit, dass man etwas unternehmen muss, aber er wisse nicht, was. Die Empathie war bei vielen, auch in der Bevölkerung, grundsätzlich mit den israelischen Geiseln. Doch ich spüre langsam eine Veränderung.
Inwiefern?
Immer mehr Reservisten verweigern den Dienst in der israelischen Armee. In Israel wächst der Protest gegen Regierungschef Netanjahu und seine Kriegsführung wegen der vielen Opfer in Gaza.
Auch international steigt der Druck. Deutschlands Kanzler Friedrich Merz übt deutliche Kritik an der Kriegsführung von Israel. Frankreich und Kanada drohen Israel Sanktionen an, falls der Angriff auf Gaza nicht aufhört, Grossbritannien hat bereits Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Israel sistiert.
Ich bin dankbar dafür, dass sich etwas bewegt, auch wenn es sehr spät und noch sehr zögerlich ist. Nun müssen Taten folgen.
Wird der Krieg aufhören, wenn Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu abtreten würde?
Der Krieg würde sicher aufhören, der Konflikt aber nicht. Diese Regierung muss abtreten, die Waffen müssen ruhen, und die humanitäre Hilfe muss funktionieren. Aber damit ist nicht plötzlich alles gut.
Was braucht es dann?
Die Politik muss vor Ort Bedingungen schaffen, die den palästinensischen Menschen in der Westbank und in Gaza Zukunftsperspektiven eröffnen – mit einer anerkannten politischen Stimme. Doch Israel hat bereits letzte Woche angekündigt, 22 neue Siedlungen in palästinensischem Gebiet zu errichten.
Auch dies begründet Israel mit dem Kampf gegen die terroristische Hamas.
Selbst wenn die Hamas ausgelöscht ist – wenn es keine politische Lösung gibt, wird es dadurch neue radikale Gruppierungen geben. Die Leute haben nichts zu verlieren. Man muss ihnen etwas zu verlieren geben!
Sie sind ja Friedensaktivistin …
… so habe ich mich lange bezeichnet. Doch heute finde ich die Situation dermassen schlimm, dass ich mich lieber als Menschenrechtsaktivistin bezeichne. Von Frieden kann man nur sprechen, wenn die Menschen auf beiden Seiten dieselben Rechte haben, wenn Demokratie herrscht – nicht wenn bewaffnete Soldaten und Siedler einer schutzlosen Zivilbevölkerung gegenüberstehen. Bis zum Frieden wird es Jahrzehnte brauchen.