Darum gehts
- Lohnschutzmassnahme im EU-Deal könnte von Schweizer Gerichten gekippt werden
- Seco und Gewerkschaften einigten sich auf EU-konforme Spesenregelung mit Unsicherheiten
- Seco-Chefin Helene Budliger Artieda sieht grossen Spielraum bei Umsetzung
Beim EU-Deal ist der Lohnschutz eines der entscheidenden Kriterien – zumindest wenn es um die Unterstützung der Gewerkschaften geht. Vergangenes Jahr verlangten sie vom Bundesrat konkrete Massnahmen, damit das Vertragspaket nicht die Schweizer Löhne unter Druck setzt. Ansonsten werde es für sie schwierig, sich dahinter zu stellen.
Wirtschaftsminister Guy Parmelin (65, SVP) und das Wirtschaftsdepartement (WBF) nahmen die Drohung ernst – und präsentierten im März Massnahmen. Unter anderem sollen Grenzgängerinnen und -gängern weiterhin Spesen auf Schweizer Niveau vergütet werden. Obwohl es von der EU eigentlich anders geregelt ist: Sie berechnet die Arbeitsauslagen nach dem Herkunftsland der Arbeiterinnen und Arbeiter und nicht dem Arbeitsort.
«Grosse Unsicherheiten» bei der Spesenregelung
Das Problem dabei: Geht die Schweiz völkerrechtliche Verträge ein, so hat danach das Völkerrecht grundsätzlich Vorrang vor Schweizer Gesetzen. Und mit dem EU-Vertrag wäre die Schweiz aufgrund des Freizügigkeitsabkommens verpflichtet, die europäische Rechtssprechung bei den Spesenregelungen zu übernehmen.
Schliesslich einigten sich Bund und Gewerkschaften darauf, dass die EU-Regelung zwar im Wortlaut übernommen werde. Sie soll jedoch mit einem zusätzlichen Artikel ergänzt werden, der in jedem Fall sicherstellen soll, dass Auslagen nach Schweizer Verhältnissen gelten. Die EU-Regelung biete «grossen Spielraum», und die Schweizer Variante sei damit konform, beteuerte Staatssekretärin Helene Budliger Artieda (60) im März.
Jetzt zeigt sich: Beim Bundesratsentscheid war sich aber nicht einmal Parmelins Departement selbst sicher, ob dieser Plan dereinst vor Schweizer Gerichten standhalten würde. Dies geht aus Dokumenten hervor, die Blick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat. Ob die Gesetzesanpassung auch vor dem Gericht bestehen bleibt, sei «mit grossen Unsicherheiten behaftet», schrieb das WBF damals in seinem Bericht an den Bundesrat.
«Sicherste Variante», sagen die Gewerkschaften
Waren Parmelin und seine Gefolgschaft in ihrer Einschätzung bloss übervorsichtig? Oder führten sie die Gewerkschaften bewusst an der Nase herum? «Die vom Bundesrat vorgeschlagene Anpassung im Entsendegesetz betreffend Spesenregelung wurde rechtlich umfassend analysiert», schreibt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) auf Anfrage von Blick. «Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine rechtliche Einschätzung handelt, abschliessend kann die Frage nur von einem Gericht beurteilt werden.»
Nach Ansicht von Parmelins Leuten muss am Ende das Parlament den Deal absichern. Dieses könne in gewissen Fällen dem Bundesgericht geltend machen, dass inländisches Recht über völkerrechtliche Verträge gestellt werde, merkte das Departement im Bericht an.
Auch beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund ist man sich der Unsicherheiten bewusst. Zumal selbst in der EU weiterhin nicht vollständig geklärt sei, wie die europäischen Richtlinien ausgelegt werden sollen. «Wir sind aber der Ansicht, dass die gewählte Lösung die sicherste Variante ist», sagt Chefjuristin Gabriela Medici (39). Besonders dann, wenn sie sowohl vom Parlament als auch durch einen Volksentscheid legitimiert würde.
Cassis und Rösti feuerten gegen Parmelin
Während sich das WBF und die Gewerkschaften also einigten, nahmen andere Departemente die Schwachstelle bewusst unter Beschuss. In der Ämterkonsultation wies etwa das Aussendepartement von Bundesrat Ignazio Cassis (64, FDP) darauf hin, dass das Bundesgericht die Personenfreizügigkeit bisher nicht unter die vom Bundesrat vorgesehene Praxis gestellt – und somit Völkerrecht vorgezogen habe.
Aufs Ganze ging das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) von Parmelins Parteikollege Albert Rösti (57): Es warnte in einem Schreiben davor, dass «mit Vertragsabschluss auch gleich schon eine Vertragsumgehung geplant wird» – und befürchtete einen Reputationsschaden für die Schweiz.
Statt den Ball dem Parlament zuzuspielen, forderte das Uvek-Generalsekretariat, dass Parmelins Departement nochmals über die Bücher gehen solle. So soll sowohl ein externes Gutachten als auch eines durch das Bundesamt für Justiz in Auftrag gegeben werden. Das WBF stieg nicht auf die Provokation ein – und auch der Gesamtbundesrat hielt vorläufig am wackligen Kompromiss fest.