Expertin zu Lärm, Hitze, Staub
Macht uns die Stadt krank?

Die Epidemiologin Nicole Probst-Hensch weiss, was Stadtbewohnern aufs Gemüt schlägt. Im Interview fordert sie mehr Grün. Und weniger Laubbläser.
Publiziert: 25.10.2025 um 17:15 Uhr
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Aktualisiert: 25.10.2025 um 17:27 Uhr
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Die Wissenschaftlerin Nicole Probst spricht sich gegen Autoposer aus: Nächtliche Raserei und Verkehrslärm schaden Herz und Kreislauf.
Foto: Christian Aeberhard

Darum gehts

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Peter Aeschlimann
Beobachter

Ist es ein besonderes Glück, in der Schweiz geboren worden zu sein? Wer die jüngsten Gesundheitsberichte liest, muss zu einem anderen Schluss gelangen: Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt seit Jahren. Welchen Einfluss äussere Faktoren wie Lärm, Luftverschmutzung oder Städtebau aufs Gemüt haben, gehört zum Forschungsgebiet der Epidemiologin Nicole Probst-Hensch.

Beobachter: Frau Probst-Hensch, es ist Herbst, die Laubbläser rauben mir den letzten Nerv. Was raten Sie mir?
Nicole Probst-Hensch: Entspannungsübungen. Oder Reissaus nehmen. Vor allem aber: Gönnen Sie sich genügend Schlaf! Ausserdem ist Lärmwahrnehmung relativ.

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Wie meinen Sie das?
Wer in einer ruhigen Gegend wohnt, fühlt sich vom ersten Flieger um sechs Uhr morgens deutlich mehr gestört. Auch die Einstellung ist entscheidend. So beeinflusst der Status einer Beziehung zu den Nachbarn die Wahrnehmung von Lärm. Wenn Sie das Nachbarskind mögen, stören Sie sich weniger daran, dass es wieder Spielsachen übers Parkett schleudert.

Sie sorgten dafür, dass für Feinstaub schweizweit geltende Grenzwerte festgelegt wurden. Müsste Lärm nicht auch strenger reguliert werden?
Ich bin dezidiert dafür, dass zum Beispiel Autoposern ein Riegel geschoben wird. Denn die nächtliche Raserei wie auch Verkehrslärm insgesamt schaden Herz und Kreislauf. Eine andere Frage ist diejenige nach der richtigen Balance zwischen verdichtetem Wohnen und Aussengastronomie. Hier müssen Stadtplanung und Gesundheitsförderung ineinandergreifen: Wo braucht es Ruhezonen, wo wird soziale Interaktion gefördert?

Ein mediterraner Lifestyle ist gesund – verursacht aber auch Lärm.
Bis vor wenigen Jahren wurde der Gesundheitsaspekt in der Ausbildung von Architekten vernachlässigt. Man fokussierte nur aufs Design. Das ist natürlich verrückt, wenn man bedenkt, wie viel Zeit wir in Innenräumen verbringen. So banal es klingt: Schlafzimmer sollten nicht dort gebaut werden, wo bis zwei Uhr morgens gefeiert wird.

Welchen Einfluss hat denn Lärm auf unsere Zufriedenheit?
Lärm aktiviert die Stressachse. Das ist schlecht für die Gesundheit insgesamt und auch für die psychische Gesundheit. Eine Studie unseres Instituts in einer psychiatrischen Klinik in Meiringen BE kam zum Schluss, dass Patientinnen und Patienten an Tagen mit vielen Starts auf dem nahen Militärflugplatz mehr Beruhigungs- und Schmerzmedikamente benötigen.

Nicole Probst-Hensch versucht, Lärm aus dem Weg zu gehen.
Foto: Christian Aeberhard

Wie gehen Sie persönlich mit Lärm um?
Ich gehe ihm, wenn möglich, aus dem Weg. Als ich einst in einem typischen Familienquartier lebte, spielten Kinder – völlig zu Recht – auf dem grossen Platz vor dem Haus. Von früh bis spät knallte der Ball gegen eine Betonwand. Mir fehlte die Privatsphäre, das Quartier war in dieser Hinsicht schlecht konzipiert. Irgendwann realisierte ich, dass ich da nicht mehr wohnen konnte. Ich wollte ja nicht zur Quartierhexe werden.

Drei von vier Personen in der Schweiz wohnen im städtischen Raum. Und es werden immer mehr. Sind die Städte dem Ansturm gewachsen?
Städte setzen in unserer engen Schweiz sinnvollerweise auf Verdichtung, um auch Erholungsräume bereitstellen zu können. Die Frage muss nun lauten, wie wir diesen Prozess angehen. Verdichtung kann zur Entstehung von noch mehr Hitzeinseln beitragen. Wie stellen wir also sicher, dass man die korrekten Bäume pflanzt? Bei der Europaallee in Zürich wären Linden die bessere Wahl gewesen als Ginkgobäume, die kaum Schatten spenden.

Verdichtung führt auch zu Dichtestress, der wiederum aufs Gemüt schlägt.
Die Medaille hat stets zwei Seiten: Verdichtung sorgt für mehr Begegnungen. Genauso wichtig ist aber die Privatsphäre. Wir müssen Räume schaffen, um dem Lärm zu entfliehen, gleichzeitig aber soziale Kontakte fördern, um gegen die Vereinsamung anzukämpfen.

Ganz konkret: Wie sollen wir bauen?
Fenster mit Doppelverglasung und eine Komfortlüftung sollten Standard sein. Auch Klimaanlagen dürfen nicht tabu sein. Wir können nicht so tun, als gäbe es keinen Klimawandel. Für die ältere Bevölkerung wird das schnell gefährlich.

Klimaanlagen für alle?
Ja, wir benötigen mehr Kühlungsmöglichkeiten, auch wenn das natürlich einhergehen muss mit Verhaltensänderungen in Sachen Fliegen, Autofahren oder nachhaltiger Ernährung. Mittelfristig sehe ich aber keine Alternative zur Kühlung von Innenräumen in Hitzeperioden. Die Hitze im Sommer bringt uns um den Schlaf. Und Schlaf ist neben frühkindlichen Traumata wie Missbrauch derjenige Faktor, der die psychische Gesundheit am stärksten beeinflusst. Neben Kühlungsmöglichkeiten im Innenraum sind aber auch schattenspendende und ansprechende Grünareale im Aussenraum wesentlich.

Nicole Probst-Hensch im Basler Wettsteinquartier.
Foto: Christian Aeberhard

Auch Lärm hält uns wach. Verkehrsminister Albert Rösti will das Errichten von Tempo-30-Zonen stark einschränken. Ein Rückschritt?
Ganz klar. In Quartieren ist aus Sicherheits- und Umweltgründen Tempo 30 angebracht. Ausserdem schadet etwas Verlangsamung in gewissen Bereichen unserer Psyche nicht.

Tempo 30 macht Quartiere aber auch attraktiver. Das verteuert die Mieten. Ein weiterer Stressfaktor.
Das zeigt, wie wichtig der Ansatz «Gesundheit in allen Politikbereichen» ist. Stadtplanung muss immer unter der Linse der sozialen Ungleichheit betrachtet werden. Es kann nicht sein, dass jemand über Verkehr nachdenkt, jemand über Architektur und noch jemand über Gesundheit. Man muss sich gemeinsam an den Tisch setzen und gute Lösungen finden.

Was wäre denn eine gute Lösung?
Gegen Segregation hilft ein guter Mietermix. Den erreichen wir mit Grundrissen für sämtliche Budgets und der Förderung von gegenseitigem Verständnis. Ein interessantes Projekt mit kleinen Interventionen in Wohnblocks haben Vertreter verschiedener Forschungsrichtungen an der Fachhochschule Bern lanciert. Sie stellten zum Beispiel Kaffeemaschinen in Waschküchen auf. Statt sich um die Benutzung des Trockners zu streiten, trafen sich die Leute auf einen Schwatz. Das fördert das interkulturelle Verständnis unter den Bewohnenden. Gerade wenn man älter wird, ist es nicht unbedingt das Einfamilienhäuschen im Speckgürtel, das einen am glücklichsten macht.

Man weiss schon lange, dass Städte grüne Oasen brauchen. Trotzdem baut man immer noch Betonwüsten wie die Europaallee in Zürich. Wie frustrierend ist das für Sie als Forscherin und Mahnerin?
Die Europaallee ist ein Negativbeispiel. Insbesondere, weil das Problem der Hitzeinseln schon vor dem Bau bekannt war. Als Forscherin sehe ich ein grundsätzliches Problem: Wir investieren hierzulande sehr viel Geld in die Medikamentenentwicklung, vernachlässigen jedoch die Prävention. Und es fehlt uns die Grundlage, um die langfristigen Auswirkungen von Umweltfaktoren auf unsere Gesundheit zu erforschen. Die Schweiz mag ein sehr reiches Land sein. Bezüglich Gesundheitsdaten sind wir hingegen arm. Evidenzbasiertes Handeln funktioniert aber nur mit Daten.

Wo klemmt es?
Die Angst vor Datenmissbrauch ist gross. Datenschutz ist wichtig, aber wir haben eine verzerrte Wahrnehmung. Nie diskutieren wir darüber, wie gefährlich es ist, keine Daten zu haben. Wenn wir wollen, dass unser Gesundheitssystem top bleibt, braucht es mehr Daten. Jede Kuh wird von der Geburt bis zum Tod vermessen. Ich will niemanden mit einem Chip ausrüsten. Aber es wäre schon wichtig, die langfristigen Auswirkungen synthetischer Chemikalien wie zum Beispiel PFAS im menschlichen Körper zu kennen.

Zum Schluss: Macht das Landleben tatsächlich glücklicher?
Das kann man nicht pauschal beantworten. Was wir wissen: Eine natürliche Umgebung hilft. Und damit meine ich nicht den englischen Rasen. Eine schöne Grünfläche ist ein Raum, den man nicht einfach überblicken kann, der verwinkelt ist, der biodivers ist. So etwas ist selbstverständlich auch in Städten möglich. Urban Gardening ist eine exzellente Methode, um soziale Interaktionen zu fördern. Zudem bin ich überzeugt, dass Arbeit mit den Händen die psychische Gesundheit verbessert. Es kommt nicht von ungefähr, dass Gärtner die glücklichsten Menschen sind. Wenn ich Tomaten ernten kann, geht es mir gut.

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