Ausnahmezustand in Gefängnissen
«Mit mehr Härte erreichen wir nichts»

Für die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr ist klar: Mit den bestehenden Ressourcen sind Haftanstalten damit überfordert, psychisch erkrankte Insassen angemessen zu betreuen.
Publiziert: 17.07.2025 um 19:58 Uhr
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Aktualisiert: 17.07.2025 um 21:44 Uhr
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In Schweizer Gefängnissen landen immer mehr Menschen, die psychisch auffällig sind. Gerade viele Flüchtlinge.
Foto: keystone-sda.ch

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Tanja Polli
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Tanja Polli und Daniel Benz
Beobachter

Jacqueline Fehr, die Mitarbeitenden im Gefängnis Affoltern sagen, es kämen immer mehr Menschen, die psychisch auffällig sind. Wie erklären Sie sich das?
Die Gefängnisse sind ein Spiegel der Gesellschaft. Die Mental-Health-Krise, in der sich die Gesellschaft befindet, zeigt sich dort verschärft. Hinzu kommt, dass wir mit Armutskriminalität konfrontiert sind. Immer mehr Menschen sind einsam, krank, süchtig oder durch ein fehlendes Bleiberecht prekarisiert. Das sind alles Faktoren, die zu vermehrter Kriminalität führen.

Uns hat überrascht, wie viele Häftlinge die Schweiz nach Beendigung der Strafe verlassen müssen. In Affoltern sind es über 60 Prozent – die Mehrheit mit einer psychischen Belastung.
Die Fluchtmigration ist ein Faktor, der die Anzahl Häftlinge mit hohen Belastungen fördert. Diese Menschen sind übers Mittelmeer geflohen oder über die Balkanroute. Sie haben Gewalt erlebt, Hunger, Krankheit. Das übersteht man nicht einfach so. Psychische Belastungen, Suchtmittel- oder Medikamentenmissbrauch sind verbreitete Auswirkungen. Und: Wer auf der Flucht ist und sich an die Gesetze hält, kommt nicht weit. Man muss Essen stehlen, einbrechen, um übernachten zu können. Sich körperlich zur Wehr setzen, wenn man nicht sterben will. Das sollte man sich immer vor Augen halten. Ist man dann hier in dieser durchorganisierten Schweiz und erhält keine Behandlung, ist das eine Situation, die für niemanden gut ist.

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Die Gefängnismitarbeitenden sagen auch: «Wir tun, was wir können, aber wir sind fachlich überfordert, mit solchen Insassen adäquat umzugehen.» Werden die Mitarbeitenden so nicht verheizt?
In den Gefängnissen sitzen Menschen in Ausnahmezuständen. Von denjenigen, die sie betreuen, erwarten wir unglaublich viel. Ich bin immer wieder enttäuscht, wie wenig Aufmerksamkeit die Politik den Menschen schenkt, die hinter den Gefängnismauern arbeiten. Da müssen wir hinschauen: Sind die Leute entsprechend ausgebildet? Haben die Gefängnisse genügend personelle Mittel? Wir müssen anerkennen, dass Gefängnisse zu sozialpsychiatrischen Institutionen geworden sind – ohne die entsprechenden Ressourcen. 

Braucht es mehr Psychiatriepfleger und Psychologinnen statt Aufseher?
Es braucht beides. Und von beidem mehr. Der politische Widerstand ist aber leider enorm. Ich habe mit nichts einen so schweren Stand im Regierungs- und im Kantonsrat wie mit Stellenanträgen für den Justizvollzug. Das ist absurd, denn dieser Bereich benötigt heute im Kanton Zürich weniger als zwei Prozent des kantonalen Budgets und leistet damit unglaublich viel.

Viele der Häftlinge kommen aus anderen Kulturen, haben kein Bleiberecht für die Schweiz. Stellt das den Resozialisierungsgedanken nicht in Frage?
Man weiss aus zahlreichen Studien, dass auch kleine Interventionen eine enorme Auswirkung haben können auf den Verlauf eines Lebens. Das gilt auch für Menschen, die nicht hier sozialisiert wurden. Es kann vieles verändern, wenn da jemand ist, der zuhört oder erklärt, was eine Depression ist, eine Angsterkrankung. Mit noch mehr Härte erreichen wir nichts. Diese Menschen haben sich eine Hornhaut gegenüber Gewalt, Abwertung und Zwang zugelegt, sonst hätten sie nicht überlebt.

Diejenigen, die auffällig und aggressiv sind, ziehen im Gefängnisalltag alle Ressourcen auf sich. Kommen da die «Anständigen» nicht zu kurz?
Es ist wie in einer Schulklasse: Je höher der Anteil besonders anspruchsvoller Kinder ist, desto weniger Zeit bleibt für diejenigen, mit denen man rasch weiterkäme. Man kann aber die Hochrenitenten nicht einfach ignorieren, sonst kommt es zu Gewalt oder zur Instrumentalisierung der Schwächeren. Fehlen die Ressourcen, kommen als Erstes die Angepassten unter die Räder.

Ist es überhaupt sinnvoll, Menschen, die das Land nach Absitzen der Strafe verlassen müssen, hier einzusperren?
Diese Diskussion wird seit langem geführt. Tatsache ist: Die Herkunftsländer sind nicht bereit, uns zu entlasten. Das Bewusstsein, was die Kolonialisierung angerichtet hat, weshalb der Wohlstand heute so verteilt ist, wie er ist, ist im globalen Süden angekommen – auch bei den Menschen, die hierhergeflüchtet sind. Was täten wir, wären wir jung, männlich, im Maghreb oder in einem der armen Länder in der Subsahara geboren worden?

Wir würden uns vielleicht auf den Weg machen.
Viele von uns. Die Männer, die hier sind, wurden von ihren Communitys geschickt, in der Hoffnung, das Leben der ganzen Familie zu verbessern. Die Schweiz kennt das aus der eigenen Vergangenheit. Denken Sie nur an die «schwarzen Brüder», die Kaminfegerbuben aus dem Tessin. Geändert hat sich, dass dieses Streben nach einem besseren Leben heute in der Illegalität stattfinden muss: Wer sich auf den Weg macht, riskiert sein Leben oder bezahlt mit seiner psychischen Gesundheit.

Viele Häftlinge sitzen wegen Bagatelldelikten wie Schwarzfahren oder illegaler Einreise ein. Ist es sinnvoll, wenn Leute wegen solcher Delikte ins Gefängnis müssen?
Diese Frage darf man sich stellen, insbesondere auch bei Menschen mit einer Suchterkrankung. Ist es zielführend, jemanden, der drogenabhängig ist, alle paar Monate zu inhaftieren, weil er seine Rechnungen nicht bezahlt? Natürlich hat die Gesellschaft ein Bedürfnis, Straftaten zu vergelten, aber sie möchte auch, dass die Inhaftierten zu besseren Nachbarn werden. Da wären sozialpsychiatrische Ansätze vielversprechender als ein Gefängnisaufenthalt. 

Straffällige Asylsuchende könnte man früher zurückschicken.
Das versuchen wir. Eine geordnete Ausreise ist das Beste, was passieren kann, aus menschlicher wie aus finanzieller Sicht. Diesen Weg müssen wir noch viel konsequenter gehen, vor allem mit Leuten aus Ländern, die sich weigern, ihre Bürgerinnen und Bürger zurückzunehmen.

Welche Lösung sehen Sie?
Im Kanton Zürich haben wir neu ein Beratungsangebot, das darauf abzielt, den Willen zur freiwilligen Ausreise zu erhöhen. Wenn dieser Wille vorhanden ist und sich die Betroffenen korrekt verhalten, können sie nach zwei Dritteln der Strafe ausreisen. Zudem unterstützen wir sie beim Neustart im Heimatland. Das führt zu Einsparungen im Vollzug, und wir brauchen keine Polizei und keine Sonderflüge. Und wir haben die Chance, dass sich jemand nach der Ankunft in der Heimat nicht sofort wieder auf den Weg Richtung Schweiz macht.

Gibt es erste Erkenntnisse dieses Projekts?
Ja, die sind sehr positiv. Es geht manchmal nur darum, bei H&M einen Anzug zu besorgen oder ein wenig Startkapital für eine Existenz im Heimatland auszuzahlen. Wir dürfen nicht vergessen: Diese Menschen haben zwar oft Heimweh, aber sie können nicht als Verlierer zurückkehren in eine Gemeinschaft, die das ganze Ersparte zusammengelegt hat, damit sie gehen konnten.

Man könnte kritisieren: Die Schweiz lädt geradezu dazu ein, hier straffällig zu werden.
Es gibt keine Rechtfertigung dafür, wenn Migrantinnen und Migranten bei uns straffällig werden. Aber es ist wichtig, sich der Geschichte dieser Menschen bewusst zu sein. Wir wissen, wie viel diese Leute durchgemacht haben für den Urtraum des Kapitalismus. Sie haben ihr Leben in die eigenen Hände genommen und sind dorthin aufgebrochen, wo sie für sich eine Chance sehen. Dass wir ihnen das moralisch zum Vorwurf machen, ist nicht ganz nachvollziehbar. Denn diese Menschen machen genau das, worauf unser ganzes Wirtschaftssystem basiert.

Lohnt sich der ganze Aufwand im Gefängnis, wenn wir die Inhaftierten am Ende der Strafe ohne Nachsorge auf die Strasse stellen?
Rechtlich sind wir bis zum Tag zuständig, an dem die Strafe endet. Was danach passiert, liegt nicht in unseren Händen – insbesondere dann nicht, wenn jemand kein Bleiberecht hat. Was wir tun können, ist, den Aufenthalt zu nutzen, um zu stabilisieren. Meist geht es um Medikamentenmissbrauch, Hygiene, Schlafrhythmus und, wenn möglich, den Wiederaufbau von Kontakten im Heimatland. Aber ja: Die Nachsorge fehlt. Die Gefahr ist gross, dass jemand ein paar Tage später wieder aufgegriffen wird, wenn er mit nichts losgeschickt wird.

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