Wo der Rhein am Schönsten ist

Publiziert: 26.04.2007 um 15:43 Uhr
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Aktualisiert: 06.09.2018 um 19:12 Uhr
Von Carl Just
Kristallklares Wasser, wilde Bergbäche, kühle, heile Welt: Nirgendwo ist der Rhein so schön und romantisch wie in seinem Quellgebiet. Im Bündner Oberland donnert und rauscht das zu Tal, was anderswo im Lande fehlt: frisches, sauberes Nass. Besonders jetzt, zur Zeit der Schneeschmelze, erfüllt sich am Ursprung des mächtigen Stroms die Sehnsucht nach reiner Natur.

Unten im Churer Rheintal hat viel zu früh der Sommer Einzug gehalten. Das fruchtbare Kulturland, das man hier dem Fluss abgetrotzt hat, lechzt im April schon nach Wasser. Auf den Weiden blüht der Löwenzahn, an den sanft ansteigenden Hängen am Ufer die Kirsch- und Apfelbäume.

Der Weg zur Quelle des wichtigsten Schifffahrtswegs Europas führt hoch zum Oberalppass (2044 m ü. M), und zurück zu den letzten Resten dieses Winters, der keiner war. Tourenskifahrer kämpfen sich über die Schneefelder, die mit jedem warmen Sonnentag kleiner werden. Über die ungewöhnlich früh geöffnete Passstrasse donnern – Frühlingsboten gleich – die schweren Motorräder aus dem Unterland.

Von den steilen Flanken südlich der Passhöhe stürzen sich Schmelzwasserbäche ins Tal, es gischt und zischt, dass es eine Freude ist. Neben Schneeresten bilden sich Tümpel und Seelein, die oft nur ein paar Tage alt werden. Das Wasser, das hier schmilzt und kristallklar aus kleinsten Quellen sprudelt, wird sich 1320 Kilometer weiter unten in die verschmutzten Becken des Rotterdamer Hafens und schliesslich in die Nordsee ergiessen.

Eine klar definierte Quelle dieses mächtigen Stroms auszumachen, ist schwierig, ganz besonders jetzt im Frühjahr. Der Vorderrhein ist ein paar Kilometer länger als der Hinterrhein, der ein paar Täler weiter südlich am San Bernardino entspringt. Deshalb gilt die Region hier am Oberalp als «Quellregion des Rheins», als eigentliche Quelle benennen die Geografen den kleinen Tomasee, auf
2344 m ü. M. am Fusse des Piz Badus gelegen. Von hier fliesst das Wasser seit 12 000 Jahren in nordöstlicher Richtung durch die hochalpine Landschaft des Bündner Oberlandes. «Rhein» kommt aus der Sprache der Kelten, die einst hier siedelten und ist als Name für den grössten und stolzesten Fluss der Schweiz, Deutschlands und Hollands enttäuschend profan, heisst das keltische «rhen» doch nichts weiter als «fliessen».

Der junge Rhein ist katholisch

50 Millionen Menschen leben im Einzugsgebiet des Stroms. Die erste Siedlung erreichen die Wasser aus dem Tomasee bei Tschamut. Hier im ruhigen Passhotel Rheinquelle schrieb Conrad Ferdinand Meyer einst seinen Historienroman über den Bündner Volkshelden Jürg Jenatsch. Heute fläzen Mountainbiker und Wanderer an den Tischen im sonnigen Garten, das Rauschen und Zischen der wilden Wasser unten im engen, felsigen Bachbett mischt sich mit dem Röhren der Hondas und Harleys, welche die Passstrasse hochheizen, als gelte es dem Lauf der Zeiten Paroli zu bieten.

Ein paar Minuten später erreicht das Wasser Sedrun, fliesst vorbei an der mächtigen Baustelle des Neat-Seitenstollens. Die Menschen, die hier leben und sich mit naturnahem Tourismus ein schönes Zubrot verdienen, fühlen sich allerdings weniger zuvorderst am jungen Rhein, als vielmehr zuhinterst in einem endlos langen Tal. Nur Kenner verirren sich bis nach hier oben. Deshalb haben die Sedruner ein kühnes Projekt angeworfen: Dereinst sollen die Gäste mitten im neuen Gotthard-Basistunnel aus dem Zug steigen und über einen 800 Meter hohen Lift nach Sedrun reisen, durch den Neat-Stollen. Ob und wann diese kühne «Porta Alpina» kommt, ob sich das Projekt rechnet, steht noch in den Sternen.

Aus dem Wildbach oben an der Quelle ist längst ein ausgewachsener Fluss geworden, Seitenarme und Zuflüsse von den schneebedeckten Dreitausendern links und rechts speisen den jungen Rhein, und bei Disentis ahnt man schon den mächtigen Strom, der aus dem Wasser weiter unten wachsen wird. Hier gründete der fränkische Mönch Sigisbert um 720 n. Chr. ein Kloster, das heute mächtig über dem Tal thront. Die Benediktinerabtei Disentis mit ihren Doppeltürmen und dem barocken Kirchenschiff ist bis heute das Kultur- und Bildungszentrum der Region. Im gestrengen Internat der Klosterschule vermitteln die Mönche jungen Menschen aus aller Welt das Rüstzeug für ein erfolgreiches Leben. Kritische Geister wie Niklaus Meienberg drückten hier die Schulbank, aber auch ehrgeizige Wendehälse wie FDP-Nationalrat und Ex-Fernsehchefredaktor Filippo Leutenegger.

Der junge Rhein ist katholisch und eigentlich müssten seine glasklaren Wasser tiefschwarz sein. Das Bündner Oberland ist konservativ, fest in der Hand der lokalen Fürsten der Christlichen Volkspartei. Das rätoromanische Idiom spricht man hier noch immer sehr nahe am mittelalterlichen Original – unverständlich, exotisch bis zum Abwinken.

Berge wie Bretter vor dem Kopf

Die Bündner Oberländer haben in den letzten Jahrzehnten viel Energie und Fleiss in die Entwicklung ihres schönen Tals investiert – das Image der Hinterwäldler vom Vorderrhein sind sie trotzdem nie ganz losgeworden. Wenn die Deutschschweizer Freiburger- oder die Deutschen Ostfriesenwitze erzählen, dann geben die Bündner Oberländerwitze zum Besten. Genüsslich äffen die Unterländer in Chur das gebrochene Deutsch der Bergler nach, mit dem kräftigen zuhinterst im Hals rollenden R. Der tumbe Gion Gieri aus dem Oberland wurde so zum Sinnbild für den verstockten und bornierten Bergbewohner mit beschränkter Intelligenz. Selbst Meienberg, der sich hier in der Klosterzelle das Fundament seiner breiten Bildung in den Charakterschädel büffelte, spottete später: «Wo Berge sich erheben wie Bretter vor dem Kopf ...»

Wer genauer hinsieht und sich löst vom bösen Vorurteil, entdeckt in der Surselva das alte Erbe einer reichen alten Kultur, das Herz einer vom Aussterben bedrohten Sprache, die sich einst direkt aus dem alten Latein der Römer entwickelte. Würde Cäsar in Mustér, wie Disentis auf Romanisch heisst, am Stammtisch sitzen, er würde mehr und gründlicher verstehen, was verhandelt wird, als der Deutschschweizer, der im protzigen SUV vorfährt und die Rechnung für die währschaften Capuns und Pizokel mit der Goldcard begleicht.

Wer wirklich hinsieht, entdeckt, dass den bösen Witzen und Anekdoten über die Hinterwäldler hier oben langsam aber sicher die Substanz ausgeht. Dorfkönig ist nicht mehr der frömmste und reichste Bauer der Gegend, sondern der smarte Akademiker mit dem Dr. oec. der St. Galler Kaderschmiede HSG. Und in den Gelben Seiten des Oberlandes, im Branchentelefonbuch, finden sich neben Ziegenkäsern und Landmaschinenmechanikern immer mehr Netzwerktechniker, Informatiker, Computerdesigner und Internetprovider. Ein sprachverrückter Brite hat gar ein Online-Wörterbuch für die Sprache der Oberländer ins World Wide Web gestellt. Sein begeistertes Urteil: «Rumantsch is fun.»

Der junge Rhein hält sich nicht in Disentis auf, das eiskalte, klare Wasser frisst sich immer tiefer ins Tal. Links und rechts wachsen Steilhänge in die Höhe und darüber erstrecken sich die Sonnenterrassen von Brigels und Obersaxen, wo der Wanderer Aussichten und Tiefblicke wie aus dem Flugzeug geniesst. Über dem Südufer wächst die Hochebene der Greina bis ins Tessin, eine der poetischsten und schönsten Landschaften überhaupt, die dank des Engagements der Anwohner und der Landschaftsschützer in ihrer rauen Ursprünglichkeit erhalten wurde. Einen Steinwurf weiter östlich, in Vella am Eingang zum Lugnez, wohnt der schöne Biobauer und Ex-Mister-Schweiz Renzo Blumenthal, der mit seinem herben Charme das Land verzauberte. Keiner verkörpert den modernen Oberländer wie er, keiner dementiert das überholte Klischee vom dumpfbackigen Hinterwäldler so telegen wie Renzo.

Der junge Rhein aber lässt Renzo und sein Lugnez rechts liegen und freut sich auf den spektakulären Ritt durch die Rheinschlucht, romanisch Ruinaulta, den Little Grand Canyon der Schweiz. Vor 10000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit, donnerten hier 15 Kubikkilometer Gestein aus dem Gebiet des Segnespasses in den Vorderrhein und füllten das Tal von Ilanz bis Reichenau mit Geschiebe, Fels und Geröll. Nach diesem weitaus grössten Felssturz der Alpen staute sich der Vorderrhein zu einem gewaltigen See. In den zehn Jahrtausenden seither aber hat sich das Wasser unermüdlich einen neuen Weg in die Geröllmassen gefressen und eine einmalige Landschaft mit gewaltigen Türmen und Abbrüchen geschaffen.

Adrenalinfreaks und Abenteuerlustige kämpfen sich im Schlauchboot oder Kanu durch die Stromschnellen und die gruselige Schlucht; wer es gemütlicher und sicherer liebt, zuckelt im Panoramawagen des Glacier Express durch den beeindruckenden Canyon, im «langsamsten Schnellzug der Welt», der von den Gletschern des Bernina bis ans Matterhorn führt. Hoch über der Schlucht locken die idyllischen Waldseen von Flims zum Bad, im nahen Laax wummern die Bässe der Technomusik aus den Szeneläden der Snowboarder, Skater und Biker. Der junge Rhein ahnt, dass er sich der grossen Welt nähert, der Welt der Metropolen und verruchten Grossstädte, die ihn auf seinem langen Weg zur Nordsee erwarten.

Bald wird sein Wasser nicht mehr nur die leichten, verspielten Raftgummiboote und Kanus tragen müssen, sondern die schweren Kähne und Schiffe der Rheinflotte. Am Ausgang der Ruinaulta holt sich der junge Vorderrhein denn auch mächtige Verstärkung. Bei Reichenau fusioniert er mit dem Hinterrhein, gemeinsam fliessen die Wasser von Oberalp und San Bernardino durchs Bündner und St. Galler Rheintal in den Bodensee – wissend, dass danach ein hartes Stück Arbeit wartet. Nach Basel nämlich wird der Rhein zum wichtigsten Wasserweg Europas, die verspielten klaren Wässerchen aus dem Oberland werden sich mit den traurigen schmutzigen Abwässern der Industrie mischen, welche seine Ufer auf dem langen Weg zum Meer säumen. Es wartet die Lorelei, es warten Goethes «Auen, die den Fluss bespiegeln, weingeschmückte Landesweiten».

Der Kenner aber weiss: So schön wie an seiner Quelle, so spektakulär wie in seinen Anfängen wird der Rhein nirgendwo mehr sein.

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