Kurz nach Mitternacht hinter einer Discounter-Filiale in einem Berner Vorort. Rolf* hält Sara* an den Beinen fest, während sie kopfvoran in den Container taucht. Sie fischt mehrere schwarze Abfallsäcke heraus. Der Inhalt würde ein mehrgängiges Menü für eine Familie hergeben: Spargeln, Tomaten, Aufschnitt, Rüebli, Joghurt, Käse, Zwiebeln, Fenchel, Melonen, Fertig-Lasagne. Rolf sagt: «Das Verfalldatum ist meistens abgelaufen. Aber abgesehen von einzelnen Tomaten ist alles bedenkenlos essbar.»
Mülltauchen mit politischer Botschaft
Rolf und Sara sind Mülltaucher. Sie holen sich ihr Essen aus dem Abfall. Nicht weil sie arm sind. Sie haben eine politische Botschaft: Wir werfen zu viel Essen weg.
Und sie haben recht. Laut einer Studie der Uno landen weltweit rund ein Drittel der Lebensmittel im Abfall. Weltweit werden jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Essen umsonst produziert.
Die Verschwendung beginnt schon in der Produktion. Rüebli und Tomaten, die nicht der Norm entsprechen, werden gar nicht erst verkauft. Im Detailhandel geht es weiter. Bei Migros, Coop & Co. bleiben nach Ladenschluss jeden Tag grosse Mengen liegen.
Aber wir Konsumenten tragen eine grosse Mitverantwortung am Problem. In Europa und den USA werden pro Kopf und Jahr 95 bis 115 Kilo weggeworfen. Auf die Schweiz hochgrechnet macht das rund 800 000 Tonnen jährlich. Am meisten davon Brot, gefolgt von Früchten und Gemüse, aber auch Fleisch. Lebensmittelethiker Thomas Gröbly nimmt die Konsumenten in die Pflicht: «Wir müssen bewusster und weniger einkaufen.»
Mülltaucher Rolf sagt: «Unsere Kritik richtet sich gegen die Konsum- und Wegwerfgesellschaft.» Der Konsument habe sich von der Nahrungsmittelproduktion entfremdet: «Währenddessen wächst die industrielle Produktion, die Bauern von multinationalen Konzernen abhängig macht, die Natur zerstört und Tiere zur Ware degradiert», sagt der 28-Jährige Wirtschaftsinformatiker.
Während in anderen Ländern das Thema bereits breit diskutiert wird, steht die Debatte hierzulande noch bevor. Anfang Mai platzte die Premiere des Dok-Films «Taste The Waste» («Probier den Abfall»), der die Verschwendung in eindrucksvollen Bildern dokumentiert. Regiesseur Valentin Thurn beschuldigte indirekt Coop, die Aufführung verhindert zu haben.
Die «Freeganer»
Die Mülltaucher sind eine lose Szene, die stetig wächst und ihren Ursprung im New York der 90er-Jahre hat. Die Aktivisten nennen sich Freeganer (aus «free» für umsonst und «Veganer» für den Konsumverzicht von tierischen Produkten). Rolf und Sara montieren sich seit zwei Jahren regelmässig Stirnlampe und ziehen Latexhandschuhe über, um Lebensmittel aus den Mülltonnen der Detailhändler zu holen. Zuweilen besorgen sie sich die Ware zum Eigengebrauch sogar aus den Lastwagenanhängern der Migros. Sie dienen als Zwischenlager für die Reste, bevor diese in die Verteilzentren gebracht werden.
Rechtlich bewegen sie sich in einer Grauzone. Juristen sind sich nicht einig darüber, ob der Tatbestand des Hausfriedensbruchs oder Diebstahls erfüllt ist. Anwalt David Bosshard geht zumindest von geringfügigem Diebstahl aus: «Entscheidend ist: Der Grossverteiler will nicht, dass jemand diese Lebensmittel gratis bekommt.» Man stelle die Ware schliesslich zur Vernichtung oder Weiterverarbeitung bereit. In Deutschland landeten zwei Fälle vor Gericht. Einer wurde eingestellt, der zweite endete mit einem Freispruch. Die betroffene Bäckerei konnte keinen Schaden geltend machen.
Grossverteiler sind gegen das Mülltauchen
Für die Migros-Genossenschaft Aare ist Mülltauchen in Anhängern aber «ganz klar rechtswidrig»: «In unseren Anhängern hat niemand etwas verloren. Schon aus Fragen der Haftung nicht, falls etwas passiert. Die Aktivisten betreten mit Absicht ein privates Grundstück und Privateigentum, zum möglichen Nachteil des Besitzers», so ein Sprecher.
Konkurrentin Coop äussert sich zum Thema Mülltauchen sehr zurückhaltend: «Das so genannte ‹Containern› ist bei uns kein Thema», sagt Bruno Cabernard, Leiter Nachhaltigkeit bei Coop. «Der Umgang mit nicht verkaufter Ware ist klar geregelt. Abfälle werden mit der bestehenden Logistik zentral gesammelt.»
Wie viel überschüssige Ware bei den Detailhändlern genau anfällt, ist nicht bekannt. Man versucht, die Mengen zu verringern. Wie schmal der Grat ist, zeigte sich zuletzt im November 2011. Als bekannt wurde, dass Coop abgelaufenes Fleisch im Offenverkauf anbiete, war der Fleisch-Skandal perfekt. Das Argument, man mache das, um die Ausschussware zu reduzieren, wollte niemand hören.
Auch die Rabattaktionen vor Ladenschluss sind ein Versuch, die Restwaren loszuwerden. Was trotzdem liegen bleibt, geht verbilligt an Mitarbeiter. Rund 5000 Tonnen einwandfreie Lebensmittel verschenkt der Detailhandel jedes Jahr an Hilfswerke wie «Tischlein deck dich» und «Schweizer Tafel».
Dennoch entsorgt Coop 3 bis 6 Prozent aller Lebensmittel, wie der Detailhändler letzten November bekannt gab. Doch auch dieser Abfall wird weiter verwertet: Aus Früchten und Gemüse wird Biogas, Brot wird an Tiere verfüttert. Der Rest – vor allem Fleisch und Fisch, was laut Gesetz nicht weiterverarbeitet werden darf – wird verbrannt. «In der Kehrichtverbrennung landet deutlich unter 0,5 Prozent der Lebensmittel», sagt Bruno Cabernard, Leiter Nachhaltigkeit bei Coop.
Für Mülltaucher Rolf reicht das nicht: «Mit Biogas und Tierfutter ist das Problem nicht gelöst. Die Nachfrage nach Lebensmittel bleibt unverändert. Sie muss aber grundsätzlich sinken, um die ökologische Zerstörung und die steigenden Weltmarktpreise zu verringern.»
* Namen geändert