Ist mit der Aufhebung des Mindestkurses von 1.20 Franken pro Euro gleichzeitig die Masseneinwanderungs-Initiative umgesetzt worden?
Rudolf Strahm: Das ist völlig offen. Sicher ist, dass mit dem unverständlichen, unnötigen Nationalbank-Entscheid Arbeitsplätze vernichtet oder ins Ausland verlagert werden. Aber es ist unsicher, ob jetzt weniger Personal im Ausland rekrutiert wird. Es kann auch sein, dass gewisse Branchen, zum Beispiel die Hotellerie, um so mehr billigeres ausländisches Personal rekrutieren werden, um dem währungsbedingten Kostendruck auszuweichen.
Wieso war es unnötig, den Mindestkurs zu beenden?
Der Schritt bringt grosse Unruhe und Verunsicherung in die Schweizer Exportindustrie und in den Tourismus. Insbesondere der Zeitpunkt der Aufhebung ist höchst irritierend.
Weshalb?
Weil wir derzeit grosse Währungsturbulenzen erleben. Diese Woche entscheidet wohl die Europäische Zentralbank, den Geldmarkt erneut mit Euro zu fluten. Zudem stehen in Griechenland Wahlen bevor. Diese Faktoren werden den Euro weiter destabilisieren. Dass die Nationalbank noch vor diesen beiden Ereignissen einen solch einschneidenden Entscheid fällt, ist unverständlich.
Bislang hat Thomas Jordan, der Chef der Nationalbank, die Untergrenze stets verteidigt. Nun auf einen Schlag dieser Kurswechsel. Was bedeutet dies für die künftige Politik der Nationalbank?
Ihre Glaubwürdigkeit ist dahin. Die Nationalbank kann mit diesen Chefs nie mehr glaubwürdig einen Wechselkurs verteidigen. Der Slogan «Wir werden den Wechselkurs mit allen Mitteln verteidigen» wird nicht mehr funktionieren. Weil die Spekulanten jetzt wissen: Es kann jederzeit ändern.
Die Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut. Welche Auswirkungen hat eine in Ihren Augen unglaubwürdige Nationalbank auf unsere Wirtschaft?
Das wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Klar ist: Die US-Notenbank hätte wohl nie einen solchen Schritt gewagt. Sie agiert stets behutsam stufenweise – von Monat zu Monat. Unsere SNB-Führungscrew hingegen macht eine Crash-Politik.
Wie kann sie die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen?
Ich habe keine Lösung. Die Glaubwürdigkeit ist wohl auf Jahre dahin. Unsere Nationalbank ist ab sofort nicht mehr unangefochten. Sie hat die Meinungen auch im Inland polarisiert.
Wo wird sich der Euro-Franken-Kurs einpendeln?
Das weiss niemand, wahrscheinlich auch das Nationalbankdirektorium nicht. Klar ist aber: Wenn sich der Euro längere Zeit unter 1.10 Franken einpendelt, hat ein grosser Teil unserer Exportindustrie ein Problem. Rund 40 Prozent der Schweizer Wirtschaftsleistung basiert auf Exporten. Deshalb wird die Gesamtwirtschaft geschwächt und Arbeitsplätze werden aufs Spiel gesetzt.
Wir Schweizer sind dafür im weltweiten Vergleich auf einen Schlag reicher geworden – ohne etwas dafür zu tun. Importe werden dank der Aufwertung des Frankens billiger – ebenfalls Reisen in den Euroraum.
Genau solche Importpreissenkungen gibt es eben nicht – und das ist skandalös. Seit 2010 hätten die Preise für Importe um rund 20 Prozent sinken sollen. Einzig aufgrund von Wechselkursveränderungen. In den fünf Jahren sind diese Preise aber nur um vier Prozent gesunken. Weil ausländische Lieferanten die Kursgewinne nicht an den schweizerischen Detailhandel weitergeben, sondern in den eigenen Sack stecken. Die Preisüberwachung kritisierte dies mehrfach. Doch die Interessenlobbys haben eine entsprechende Verschärfung des Kartellgesetzes verhindert. Deshalb werden die Schweizer auch von der jetzigen Kaufkrafterhöhung des Frankens wenig profitieren, ausser wenn sie selber ins Ausland reisen.
Sie befürchten, dass durch die Aufwertung des Frankens die Exportbranche leidet. Und dass Branchen, die stark vom Import abhängig sind, nicht wirklich profitieren.
Genau. Unter dem Strich verlieren wir. Die Schweiz verschenkt einen Teil ihrer Wertschöpfung und der Produktivitätssteigerung ans Ausland.
Man kann es aber auch so sehen: Die 1.20-Untergrenze war eine von der Nationalbank finanzierte Subvention für die Schweizer Exportindustrie, die nicht ewig weitergehen konnte. Nun wird sich der wahre Wechselkurs einpendeln.
Das war keine Subvention für die Exportwirtschaft, sondern ein gerechtfertigter Schutz vor Spekulanten und vor der ausländischen Anlegerszene. Der Franken ist mit derzeit 1.00 zum Euro überbewertet. Die bisherige Untergrenze war ein Schutz vor Spekulanten. Selbst die Nationalbank hat dies stets betont. Und nun soll auf einmal alles anders sein?
Was hatte die SNB für Alternativen? Sie konnte doch nicht ewig Abermilliarden Euro aufkaufen, um den Franken zu schwächen. Ihre Bilanz wäre ins Uferlose gewachsen. Schon heute ist sie über 500 Milliarden schwer, was ein Risiko darstellt.
Die Höhe der Bilanzsumme ist nicht entscheidend, diese Gefahr wird massiv überschätzt. Zudem hätte die Nationalbank später viele andere Wege gehabt, die Fremdwährungen abzubauen.
Welche?
Sie hätte in ruhigeren Zeiten zum Beispiel über die Repos Franken abschöpfen und Währungsswaps, also Terminkäufe, auslaufen lassen können. Jedenfalls war kein Zeitdruck vorhanden, denn es gab von nirgendwoher inflationäre Tendenzen.
Lassen Sie uns über die Zuwanderung sprechen. In wenigen Tagen stellt der Bundesrat seinen Plan vor, wie er die Masseneinwanderungs-Initiative umsetzen will. Was erwarten Sie?
Der Bundesrat wird wohl ein Gesetz möglichst nahe am angenommenen Verfassungsartikel vorschlagen. Entscheidend ist: Die Schweiz darf sich momentan von Drohgebärden der EU nicht einschüchtern lassen.
Drohgebärden? Die EU macht schlicht und einfach klar, dass sie die Personenfreizügigkeit nicht neu verhandelt. Basta.
Das ist der momentane Stand der Drohkulisse, da haben Sie recht. Deshalb muss die Schweiz jetzt zunächst autonom entscheiden, wie sie die Zuwanderung zu steuern gedenkt, und dann mit diesem Ergebnis mit Brüssel und mit unsern Nachbarländern verhandeln. Egal, was wir beschliessen werden – eine Schelte aus Brüssel gibt es so oder so. Da muss man einfach den Brüsseler Mechanismus kennen: Die EU-Zentrale steht stets mit dem rhetorischen Vorschlaghammer parat, auch gegenüber anderen Staaten.
Wo sehen Sie Spielraum für Verhandlungen?
Die umliegenden EU-Staaten haben kein Interesse, die bilateralen Verträge zu kündigen, und wir auch nicht. Selbst wenn Brüssel dies wollte, es bräuchte die Zustimmung aller 28 Mitgliedstaaten. Diese wird es nicht bekommen. Die EU-Funktionäre wissen das – und versuchen es deshalb mit verbalem Druck. Die Brüsseler Bürokratie ist wie der Vatikan: Wenn dieser kritisiert wird, beruft er sich auf den Katechismus. Die EU beruft sich auf ihren Katechismus. Zur EU-internen Disziplinierung reitet sie auf Prinzipien rum – und verhindert damit notwendige Diskussionen über konkrete Fragen. Aber irgendwann werden wir mit Brüssel eine Lösung finden. Zu guter Letzt ist nämlich auch Brüssel zu pragmatischen Lösungen bereit.
Sie fordern zur Senkung der Zuwanderung eine Schutzklausel und einen sanften Inländervorrang. Wie soll der funktionieren?
Die Schweiz braucht einen pragmatischen, aber keinen dogmatischen Inländervorrang. Das bedeutet, dass nur jene Branchen zuerst im Inland nach Arbeitnehmern suchen müssten, in denen es Arbeitslose und Verdrängungseffekte gibt. Es gibt einige!
Nennen Sie Zahlen!
Ende Dezember waren 19 500 Personen aus dem Bau- und 13 800 Personen aus dem Gastrogewerbe als arbeitslos registriert. Beides Branchen, die enorm viel Personal aus dem Ausland rekrutieren. Sie müssen angehalten werden, zuerst im Inland zu suchen. Es gibt aber auch viele Hochqualifizierte ohne Job: Etwa 2100 Ingenieure und rund 3060 Informatiker.
Offenbar sind all diese Arbeitslosen nicht geeignet, um die vielen offenen Stellen zu besetzen.
Gewiss sind nicht alle geeignet. Aber es muss mir niemand sagen, dass darunter nicht Tausende sind, die sehr wohl beschäftigt werden könnten und dafür auch qualifiziert sind.
Wieso werden sie nicht angestellt?
Viele Firmen suchen schon gar nicht mehr in der Schweiz. Sie beauftragen einen Personalvermittler in Deutschland. Für die Firma lohnt sich dies: Sie müssen nicht selbst suchen – und sparen bei den Personalkosten. Weil Zuwanderer billiger sind.
Gibt es gar keinen derart ausgeprägten Fachkräftemangel, wie die Arbeitgeber behaupten?
In gewissen Berufen haben wir schon einen grossen Mangel. Etwa im IT- und Gesundheitswesen. Die Schweiz hat es verschlafen, mehr Personal auszubilden. Das Schlagwort Fachkräftemangel wird aber auch missbraucht. Um Rekrutierungen im Ausland zu rechtfertigen. Mit der Folge, dass sich für ältere Arbeitnehmer hierzulande ein Drama abspielt.
Beschreiben Sie dieses Drama!
Ich bekomme häufig Zuschriften von gut ausgebildeten, älteren Personen über 50. Sie schreiben Dutzende Bewerbungen, lassen sich professionell beraten – und finden trotzdem keine feste Anstellung mehr. Dies ist für sie auch psychisch schwer zu verkraften. Weil mit dem Jobverlust nicht nur Status, sondern auch Identität und Selbstvertrauen verloren gehen. Solche Schicksale machen mich traurig. Und wütend. Ein Verdrängungseffekt ist in vollem Gang. Junge, billige Fachleute aus dem Ausland ersetzen ältere Schweizer und hier arbeitende Ausländer.
Können Sie diese Behauptung belegen? Andere Ökonomen sagen nämlich das Gegenteil: dass heute nicht mehr ältere Personen ausrangiert würden als früher. Die Arbeitslosigkeit sei in den letzten Jahren nicht gestiegen.
Das ist eben nicht sichtbar in der Arbeitslosenstatistik. Die sind ausgesteuert. Aber die Erwerbsquote sinkt ab Alter 55 deutlich. In der Altersgruppe 55 bis 59 werden pro Jahrgang 6000 Arbeitnehmer ausrangiert. Die Verdrängung wird zudem durch die steigende Sockelarbeitslosigkeit sichtbar. Das ist die Quote jener Arbeitslosen, die trotz guter Konjunktur über Jahre ohne Job bleiben. Diese stieg von 15 000 in den 80er-Jahren auf 60 000 im Jahr 2000. Nun sind wir bereits bei rund 130 000.
Ein von Ihnen geforderter Inländervorrang würde die EU kaum akzeptieren. Weil er EU-Bürger diskriminiert und weil er deshalb mit der Personenfreizügigkeit unvereinbar ist.
Die EU ist natürlich dagegen, aber sie könnte nur schwer dagegen vorgehen. Ein EU-Bürger müsste nämlich die Schweiz anklagen. Und nachweisen, dass er wegen des Inländervorrangs nicht angestellt und damit diskriminiert worden ist. Diesen Beweis zu erbringen, dürfte schwierig sein.
Dies würde zu Verstimmungen mit der EU führen, die unter anderem durch Ihre enge Vertraute, Simonetta Sommaruga, gelöst werden müssten. Sie ist in diesem Jahr Bundespräsidentin. Was erwarten Sie von ihr als Prima inter Pares im Bundesrat?
Dass sie Vertrauen in der Bevölkerung schafft. Durch viele gute Auftritte.
Im Justiz- und Polizeidepartement hat sie nichts zu lachen. Die SVP treibt sie vor sich her. Und sie verlor etliche Volksabstimmungen.
Sie hat tatsächlich das derzeit schwierigste Departement. Ihre grosse Knacknuss wird die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative sein. Bei Flüchtlingsfragen kann sie machen, was sie will, sie wird immer Kritik ernten. Ich erlebe sie aber nicht vergrämt. Sie managt ihr Departement gut.
Insider sagen, sie liebäugle damit, das Departement zu wechseln.
Ich glaube, Simonetta Sommaruga weiss selbst nicht, ob sie das will. Und wenn sie es wüsste, würde sie es auch mir nicht sagen.
Welches Departement würde zu ihr passen?
Das Militär (lacht). Sie war ja Polizeichefin von Köniz. Wer das gemacht hat, kann auch das VBS kommandieren. Die Offiziere hätten sicherlich grossen Respekt vor ihr.
Ist Ihre Partei, die SP, für die Wahlen im nächsten Herbst in Form?
Ja, aber im Umgang mit Globalisierungsverlierern und in der Migrationspolitik steckt sie im Dilemma. Weil ein Teil der Wähler die Zuwanderung beschränken will – und ein anderer nicht. In der SP selbst herrscht hingegen innerer Frieden. Es gibt kaum offene Konflikte.
Weil der wirtschaftsfreundliche Flügel, zu dem auch Sie gehören, in der Versenkung verschwunden ist. Die SP fährt unter Präsident Levrat einen stramm linken Gewerkschaftskurs. Und niemand muckt auf.
Das sagen Sie.
Sehen Sie es anders?
Ich bin Veteran und nicht mehr direkt involviert. Deshalb kommentiere ich das nicht.
Ist Nationalrätin Margret Kiener Nellen, die trotz 400 000 Franken Einkommen null Franken Einkommen versteuerte, eine tickende Zeitbombe für die Partei?
Frau Kiener Nellen hat grosse Kompetenz als Finanzpolitikerin. Und sie hat nichts Illegales gemacht. Ich verstehe aber, dass die Moralfrage gestellt wird, wenn eine SP-Politikerin mit so viel Geld herumjongliert und Steuern spart. Sie hatte zu wenig Gespür und ist halt einfach reingerasselt.
Sie sind bald 72 – und voll im Saft. Was sind Ihre Zukunftspläne?
Ich fühle mich fit. Treibe jeden Tag Sport. Esse nicht zu viel Butter und Schweineschmalz (lacht). Solange ich Kraft und Lust habe, arbeite ich weiter. Mein Pensum habe ich jedoch reduziert. Schliesslich bin ich auch noch Grossvater.
Und gehen mit Ihrem Grosskind auf den Spielplatz?
Mein zweieinhalb Jahre altes Grosskind Sophie ist in der Woche einen Tag und eine Nacht bei mir. Sie nennt mich Nonno. Ich wickle und schöppele sie und spiele mit ihr. Das hält mich in Bewegung.