Die Schweizer radikalisieren sich
Ihr da oben, wir da unten

Die gesellschaftlichen Gräben sind nicht immer so offensichtlich wie an einem Abstimmungssonntag. Sie reichen aber noch sehr viel tiefer. Der Vertrauensverlust in die Eliten führt dazu, dass sich die Menschen in Parallelwelten zurückziehen. Und dort radikalisieren sie sich.
Publiziert: 22.02.2017 um 23:45 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 22:10 Uhr
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Der Vertrauensverlust in die Eliten führt dazu, dass sich die Menschen in Parallelwelten zurückziehen. Und dort radikalisieren sie sich.
Foto: Illustration: Igor Kravarik
Aline Wüst

Die vertraute Welt bröckelt. Die Wirtschaft, die Gesellschaft: Sie verändern sich rasant. Die Eliten haben sich als Menschen mit Eigeninteressen, wenn nicht gar Abgründen, entlarvt. Orientierung jedenfalls bieten sie nicht mehr wirklich. Wir blicken immer pessimistischer in die Zukunft. Je angsterfüllter wir sind, desto grösser wird unser Bedürfnis nach Sicherheit.

Wie gehen wir damit um? Der deutsche Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie Ernst-Dieter Lantermann (71) hat zu diesem Thema geforscht und herausgefunden: Wir radikalisieren uns. Er spricht dabei nicht in erster Linie von der Politik. Es geht um die eigenen vier Wände. Wir werden Veganer, Fitnessbesessene, Verschwörungstheoretiker oder auch Fremdenhasser.

Strategie in unsicheren Zeiten

Sich zu radikalisieren, ist eine Strategie, mit den Unsicherheiten unserer Zeit umzugehen. Denn Unsicherheit gibt einem das Gefühl, das Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Das greift unser Selbstwertgefühl an. Genau dieses gilt es zurückzuerobern. Dabei hilft der Rückzug in eine Welt, die Klarheit und Orientierung bietet – die Welt der Selbstradikalisierung.

Ein Beispiel ist die Ernährung. Gigia Mettler-Saladin (53) ist ernährungspsychologische Beraterin in Zürich und beobachtet, dass immer mehr Menschen ihr ganzes Leben nach dem Essen ausrichten. «Die Leute leben nach dem Motto: Die Welt fällt auseinander, aber mir geht es um jedes Gramm Fett. Alles, was ich esse, soll gesund sein.»

Eine Studie des Bundesamts für Gesundheit zeigt, dass sich mittlerweile rund ein Drittel der Schweizer fast zwanghaft gesund ernähren. Das geht so weit, dass Nahrung, die nicht der eigenen Überzeugung entspricht, abgelehnt wird. Die Vorstellung etwa, ein Snickers zu essen, wird zum Albtraum. Stattdessen geht es darum Ruhe- und Trainingsphasen penibel einzuhalten – alles im Namen der Gesundheit. Das lässt auch die Fitnessbranche boomen.

Kampf gegen Fleischkonsum

Immer beliebter wird auch der totale Verzicht auf tierische Produkte. Überzeugter Veganer und Tierrechtler ist Tobias Sennhauser (32) aus Bern. Seit neun Jahren isst er keine tierischen Produkte mehr. Lieber geht er gegen Schlachthäuser auf die Strasse. Er sagt: «Jedes Tier, das heute in der Schweiz getötet wird, stirbt sinnlos. Fleisch, Milch und Eier braucht heute niemand mehr zum Leben.»

Ein anderes Beispiel einer wachsenden Gruppe mit radikalen Überzeugungen sind die Impfgegner. Dazu gehört Daniel Trappitsch (52) aus Buchs SG. Er ist überzeugt, dass hinter dem Impfen die Interessen der Pharmafirmen stecken. Ein Verschwörung nach einfachem Strickmuster: böse Pharma versus arme Menschen. Schon ist die eigentlich doch komplexe Welt wieder überblickbar – alles klar!

Dialogbereitschaft nimmt stetig ab

Wenn sich aber alle nur noch an ihre simplen Dogmen krallen, schwindet die Dialogbereitschaft. Die verschiedenen Lager schaukeln sich auf. Dabei spielt es keine Rolle ob Veganer, Verschwörungstheoretiker oder Abtreibungsgegner. Stets gilt: Radikalisieren sich Einzelne, hat es einen Einfluss auf das Denken ihres Umfelds. Gibt es mehr Fremdenfeinde, wächst auch der Hass in der Bevölkerung auf ebendiese Fremdenfeinde. Radikalisieren sich immer mehr Menschen, entsteht ein Sogeffekt.

Lea Stahel (30) vom Soziologischen Institut der Universität Zürich hat erforscht, wie Internet und soziale Medien zu dieser Radikalisierung beitragen. Sie weiss: Wer polarisierende Inhalte liest, wird in seiner eigenen Meinung radikaler, als wenn er bloss Fakten konsumiert. Das Internet verstärke, dass polarisierende Meinungen geteilt werden. Denn es belohne Menschen, die kurz und einfach argumentieren. Soziologin Stahel sagt: «Eine Demokratie ist eine Kompromissgesellschaft. Je mehr polarisiert, je weniger andere Meinungen akzeptiert werden, desto schwieriger wird es werden, sie aufrechtzuerhalten.»

Rückzug ins Private

Pessimistisch ist auch der Luzerner Zukunftsforscher Georges T. Roos (53). Er sieht als mögliches Szenario für die Zukunft vor allem den vermehrten Rückzug ins Private. Das heisst: Zeit, Emotionen und Geld werden zunehmend in private Überzeugungen investiert. Es ist eine Art Kapitulation vor der immer komplexeren Welt. «Das kann zu extremen Formen führen. Auch zum Gefühl, dass nur die eigene Meinung legitim ist und alle anderen nicht.»

Sozialpsychologe Lantermann warnt vor dieser Entwicklung. Die zunehmende Polarisierung stelle eine grosse Gefahr für den Zusammenhalt in der Gesellschaft dar. Diese drohe dadurch immer stärker in einzelne Milieus zu zerfallen, die durch keinerlei Gemeinsamkeiten mehr miteinander verbunden seien.

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