Alt Bundesrat Adolf Ogi sorgt sich um unser Land
So findet die Schweiz aus der Sackgasse

Adolf Ogi sagt, warum es ihn reizen würde, mit der EU über die Umsetzung der Einwanderungsinitiative zu verhandeln. Und wie uns der Franken-Schock noch zusetzen wird.
Publiziert: 08.02.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2018 um 10:48 Uhr
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«Das Feuer fürs Skifahren muss neu entfacht werden», sagt der alt Bundesrat.
Foto: Sabine Wunderlin
Interview: Christof Vuille und Marcel Odermatt

Selten stand die Schweiz vor grösseren politischen Herausforderungen als im Februar 2015. Der Bundesrat ist wegen der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative unter massivem Druck. Mit der EU stehen schwie­rige Gespräche über die Personenfreizügigkeit an, Teile der Wirtschaft und des Tourismus kämpfen mit dem hyperstarken Franken.

Welche Auswege gibt es aus den Sackgassen? Wie kriegt die Schweiz die Kurve? Wenn das einer weiss, dann Adolf Ogi (72). Kaum ein Schweizer Politiker ist international so gut vernetzt wie der alt Bundesrat. Von 1988 bis 2000 in der Regierung, arbeitete er danach als Sonderbotschafter für die Uno. SonntagsBlick begleitete ihn am Donnerstag von Kandersteg BE mit dem Autozug ins Wallis – und gestern zu einem Fototermin in «seinem» Kandersteg.

Wir trafen einen nachdenklichen, aber aufgeräumten Adolf Ogi. Einen, der Klartext spricht. Der sagt, weshalb die SVP kaum einen zweiten Bundesrat erhält. Warum er die Schneeschmelze fürchtet. Und wieso es ihn reizen würde, mit EU-Chef Jean-Claude Juncker über die Personenfreizügigkeit zu verhandeln.

SonntagsBlick: Herr alt Bundesrat, wie jeden Winter verbringen Sie zwei Monate in Ihrem Heimatort Kandersteg: Was hat sich nach dem Franken-Schock verändert?
Adolf Ogi:
Es ist traumhaft schön hier, wie immer. Aber die Stimmung hat sich eingetrübt. Ich führte viele Gespräche mit Hote­liers und Touristikern in der Re­gion. Die Auswirkungen des Nationalbank-Entscheids sind spürbar. Es gibt kaum neue Buchungen. Und ich staune, wie leer die Pisten im Berner Oberland sind.

Was kann die Tourismusbranche tun?
Das Feuer fürs Skifahren muss neu entfacht werden. Dank unserer Stiftung «Freude herrscht» kann ich jedes Jahr vielen Kindern ermöglichen, Schneesport zu treiben. Das machen auch andere. Aber Schweiz Tourismus als Promotor ist gefordert. Jede Schule sollte mindestens die gesetzlich vorgeschriebenen drei Stunden Sport pro Woche und ein Skilager möglich machen, damit zum Beispiel auch Secondos in diesen Genuss kommen, die nicht mit den Eltern Winterferien machen.

Hat Nationalbank-Chef Thomas Jordan einen Fehler gemacht? Welchen Wechselkurs brauchen Tourismus und Export, damit sie nicht total einbrechen?
Man sah den Entscheid kommen und kann sicher über den Zeitpunkt diskutieren, oder ob eine gestaffelte Abkoppelung vom Euro nicht besser gewesen wäre. Aber es ist, wie es ist, und ich will der Na­tionalbank nicht dreinreden. Der Exportwirtschaft gings mit einem Wechselkurs von 1.20 hervorragend, der Tourismus kam über die Runden. Den Schock erwarte ich vor allem bei den Hotels, den Bergbahnen und in der Sportartikelindustrie erst mit der Schneeschmelze. Viele Schweizer gehen diesen Sommer wohl lieber ins Ausland, als die Ferien hier zu verbringen.

Sind Sie in dieser Hinsicht ein Vorbild?
Ich gestehe, dass ich und meine Frau im November in Oman waren, um etwas Wärme zu tanken. Eine wunderschöne Region! Ansonsten bleibe ich aber in der Schweiz und geniesse die Natur.

Auf Reisen war diese Woche auch unsere Bundespräsidentin. Für sie hat in Brüssel aber nicht viel herausgeschaut.
Das stimmt wohl so. Wir müssen halt erkennen, dass die Schweiz für die EU im Moment keine Priorität hat. Für diese ist anderes dringender, etwa die Situation in Griechenland und vor allem in der Ukraine. 

Vor einem Jahr sagte das Volk Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative Ihrer Partei. Der Bundesrat scheint da im Moment eher glücklos zu agieren.
Grundsätzlich sollte man den Bundesrat nicht ewig kritisieren. Es ist aber sicher nicht gut, wenn die Regierung im Problemlösungsverfahren mit der EU nicht mit einer Stimme spricht. Das schwächt die Position der Schweiz gegen aussen.

Und nützt der SVP!
Ich bin mir da nicht so sicher. Die meisten SVP-Wähler erwarten, dass ihre Partei – insbesondere nach dem Entscheid der Nationalbank – bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative eine konstruktive Position einnimmt und das Ganze nicht einfach für ihren 365-tägigen Dauerwahlkampf missbraucht.

Mittlerweile hat Ogi seinen Audi auf dem Autozug parkiert. Nächster Halt: Goppenstein VS. Nach ein paar Hundert Metern, gerade als das Gespräch auf die SVP kommt, bleibt der Zug stehen. Gelassen erläutert Ogi das Verhältnis zu seiner Partei. Mit seinem «Weckruf» im August habe er versucht, Blochers Isolationskurs zu stoppen, weil er sich im Hinblick auf die Wahlen Sorgen machte.

Die SVP-Spitze argumentiert, solange sie nur einen Vertreter im Bundesrat habe, sei sie halb in der Opposition und müsse auf niemanden Rücksicht nehmen.
Das stimmt. Um die SVP endlich besser einzubinden, muss sie als grösste Partei einen zweiten Vertreter bekommen. Trotzdem wird die Zusammensetzung des Bundes­rates wohl die gleiche bleiben. Daran trägt auch die SVP Mitschuld.

Weshalb?
Eine Partei, welche die Bilateralen kündigen will und mit einer Initiative die Menschenrechte in Frage stellt, macht es dem politischen Gegner einfach. Ich glaube nicht, dass die anderen Parteien dieser SVP einen zweiten Sitz zugestehen. Und will die SVP einen zweiten Sitz im Bundesrat überhaupt?

Dann bleibt es beim Mitte-links-Bundesrat?
Ja, und ich bedaure das. Deshalb forderte ich vor wenigen Monaten Listenverbindungen mit der FDP. Wir brauchen für eine bürgerliche Wende bei den Bundesratswahlen im Dezember zehn Mandate mehr. Mit ihrer Politik hat sich die SVP aber isoliert. Genau davor habe ich gewarnt. Die FDP will nicht einmal im Kanton Thurgau Listenverbindungen mit uns eingehen. Dabei ist die SVP hier eine staatstragende Partei. Deshalb befürchte ich, dass wir die Mitte-links-Allianz in Parlament und Bundesrat nicht ändern können. Schuld daran ist leider auch die SVP selber – und nicht nur die politische Konkurrenz.

Was macht der Bundesrat denn eigentlich falsch?
Es geht nicht um richtig oder falsch. Wir leben in einer schwierigen Zeit. Als ich Bundespräsident war, konnte ich Mitterrand, Clinton oder Blair anrufen und ihnen sagen, dass es ein Problem gibt. Dann haben wir miteinander gesprochen und es meistens gelöst. Das ist heute nicht mehr so einfach.

Seit über einer halben Stunde steht der Zug still. Ogi braucht etwas aus seiner Aktentasche – sie ist ein Geschenk des langjährigen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand. Mit dem 1996 verstorbenen Sozialisten verband Ogi eine auf Respekt aufgebaute Freundschaft. Nun muss der Zug zurück in den Bahnhof von Kandersteg. Wir müssen den nächsten nehmen. Ogi öffnet das Fenster und fragt Kari, der zum Rechten schaut, wie lange es denn noch dauere. Nicht mehr lange, versichert der dem «Dölf».

Das Verhältnis Schweiz-EU ist so vertrackt wie nie.
Das hat aber nicht nur mit der Schweiz zu tun. Die EU hat sich seit dem Mauerfall drastisch verändert. Ihre Vorläuferin wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, damit nach zwei fürchterlichen Kriegen in Europa endlich Frieden herrscht. Nach 1989 dachten viele, dieses Ziel sei erreicht. Dem ist nicht so. Die EU erlebt faktisch einen kriegerischen Konflikt vor ihrer Haustür, den zwischen der Ukra­ine und Russland, und ist indirekt involviert.

Wie konnte das passieren?
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die osteuropä­ischen Länder unter  Führung von EU und USA viel zu rasch in die EU und die Nato aufgenommen. Ein historischer Fehler! George W. Bush wollte in Polen gar einen Raketenabwehrschirm installieren. Damit hat man die Russen in ihrer Ehre verletzt und gereizt. Ich habe einmal recht lange mit dem russischen Präsidenten gesprochen und will mich nicht als Putin-Versteher hinstellen. Aber ich will erklären, warum die EU in einer ganz anderen Situation ist als noch in den Neunzigerjahren. Die Probleme sind heute derart gross, dass wir Schweizer mit unseren Sorgen keinen besonderen Platz mehr auf der Agenda der EU haben. Darauf muss sich die Aussenpolitik einstellen.

Macht das einen EU-Beitritt der Schweiz endgültig unvorstellbar?
Die Wörter «EU» und «Beitritt» darf man in der Schweiz nicht in den Mund nehmen. Aber vielleicht wäre es ja auch eine Chance, wenn wir in Europa mehr mitreden könnten.

Werden Sie das noch erleben?
Ich lebe vielleicht noch zehn, zwölf Jahre. Nein, wenn sich die EU nicht verändert, werde ich das nicht mehr erleben.

Und wir? Wir sind jetzt 26 und 45 Jahre alt.
Da ist eine Prognose schwierig. Es kommt wie gesagt darauf an, wie sich die EU entwickelt. Ausschliessen würde ich es nicht.

Ist der Bundesrat überfordert?
Ich sag es mal so: Manche Departemente, etwa Uvek oder WBF, sind überladen und schwer führbar. Ich bin deshalb dezidiert für einen Bundesrat mit neun oder sogar elf Mitgliedern oder dann mit 15 Staatssekretären als Alterna­tive. Sieben Bundesräte können nicht gleich viel erreichen wie 20 Minister in einem anderen Land.

Der Autozug ist mittlerweile in Goppenstein eingetroffen, wir sind bei der Abfahrt ins Tal. Kaum hat Ogis Handy wieder Empfang, läutet es ununterbrochen. Er vertröstet die Anrufenden freundlich, aber bestimmt auf den nächsten Tag. Dann meldet er seine Verspätung für den nächsten Termin und führt das Gespräch mit SonntagsBlick weiter.

Didier Burkhalter regte an, dass der Aussenminister der Schweiz immer auch zumindest Vizepräsident sein soll.
Das kann ich nachvollziehen. Für ihn beginnt nun nach dem Bundespräsidium und dem OSZE-Vorsitz eine ganz schwierige Zeit, weil er im Protokoll nach unten rutscht. Deshalb sollte der Bundespräsident nicht nur für ein Jahr, sondern mindestens für drei gewählt sein. Ebenso wichtig scheint mir eine Schutzklausel für Minderheiten. Mindestens ein Tessiner gehört in die Regierung! Aber vielleicht ist für Burkhalter ja eine Tür aufgegangen.

Sehen Sie ihn als Uno-General­sekretär?
Warum nicht? Nach Ban Ki Moon hat ein Europäer gute Chancen. Er sollte es unbedingt versuchen. Es wäre doch fantastisch, wenn ein Schweizer uns so in der Welt repräsentieren könnte.

Erst mal stehen Burkhalter und Sommaruga aber vor schwierigen Gesprächen mit der EU. Hätten Sie auf so etwas noch Lust?
Nein und ja. Nein, weil es unrealistisch ist (lacht). Ja, weil ich gerne  international verhandelte. Innerlich würde es mich reizen, in Brüssel den Spielraum bei der Umsetzung der Zuwanderungsinitiative auszuloten. Mit Jean-Claude Juncker, den ich gut kenne, käme ich ganz gut zurecht, glaube ich.

Was ist bei solch schwierigen Verhandlungen wichtig?
Leadership, Leadership und die vier M plus: Man muss Menschen mögen und kennen. Daran wird sich nie etwas ändern. Genauso wichtig ist es, Zeitfenster zu erkennen, in denen etwas erreicht werden kann. In den Verhandlungen mit der EU scheint das Fenster im Moment zugenagelt. Doch das kann sich schnell ändern. Zum Beispiel nach den Wahlen in Grossbritannien, wo es ähnliche Bemühungen gibt, die Zuwanderung zu beschränken. Oder wenn andere EU Staaten mit diesem Problem konfrontiert sind. Dann ist es auch heute noch essenziell zu wissen, wie der Verhandlungspartner tickt. Zum Beispiel welche Bücher er liest, wohin er in die Ferien geht. Zuneigungen, Abneigungen, Sport, Hobbys und persönliche Verhältnisse. Solches In­siderwissen ermöglicht Smalltalk, der einen zum Menschen hinter dem Politiker finden lässt und im entscheidenden Moment dank eines Vertrauens-verhältnisses Durchbrüche ermöglicht.

Mittlerweile sind wir in Visp VS angelangt. Von hier könnte die SonntagsBlick-Equipe durch «seinen» Lötschberg-Basistunnel zurück nach Bern fahren, sagt Ogi schmunzelnd.

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