Vor allem Eritreer
621 Jugendliche spurlos verschwunden – und keinen interessierts

Massiv mehr Flüchtlingskinder tauchen unter. Experten sehen eine Asylpraxisänderung des Bundes als Grund.
Publiziert: 21.05.2017 um 12:34 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 03:30 Uhr
Jugendliche Asylsuchende reisen ohne Geld und Papiere durch Europa.
Foto: Keystone
Aline Wüst

Die Zahl der verschwundenen Minderjährigen ist rasant angestiegen: 2015 waren es 76. Im vergangenen Jahr bereits 621. «Unkontrollierte Ausreisen» nennt dies das Staatssekretariat für Migration (SEM). In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind weitere 131 Flüchtlingskinder verschwunden.

Einige dieser Minderjährigen tauchen bei Verwandten oder in Asylstrukturen anderer Länder wieder auf – oft in Deutschland oder Holland. Von den meisten jedoch fehlt jede Spur. Hinweise auf ihren Verbleib können oft nur ihre ehemaligen Mitbewohner in der Asylunterkunft geben, die via Facebook und WhatsApp den Kontakt halten. Sie erzählen, dass die Untergetauchten in deutschen Städten stranden und mehrere Nächte auf der Strasse verbringen, bis sie die Reise fortsetzen können. Manchmal erhalten sie nachts Telefonanrufe anderer Minderjähriger, die irgendwo in Europa an einem Bahnhof stehen und keine Ahnung haben, wie sie von dort weiterkommen sollen. In der Stimme am anderen Ende der Leitung ist dann Angst zu hören. Das Gesprächsguthaben ist rasch aufgebraucht. Es sind Jugendliche wie Kifron* (17), die verschwinden.

«Eine Rückkehr kommt nicht in Frage»

An einem Nachmittag in der Schweiz im Januar: Auf Google Maps zeigt der Eritreer Kifron, woher er kommt. Er zeigt das Dorf, das Quartier, freut sich, als er den Fluss in der Nähe seines Dorfes findet. Dann will er schauen, wo Khartoum ist, die Hauptstadt des Sudans. Dort verbrachte er während der Flucht Monate mit Warten. Kifron scrollt weiter. Jetzt kommt die Sahara. Er zoomt nah heran, so nah, wie es geht. Auf dem Bildschirm ist bloss noch Braun zu sehen – Sand. Kifron sagt: «Sahara. Kein Tier, kein Wald.» Kifron scrollt, er schaut angestrengt. Es dauert selbst beim ­Scrollen eine Weile, um die Sahara zu durchqueren. Dann erscheint auf dem Bildschirm Libyen, das Mittelmeer, Ita­lien, die Schweiz.

Als ein Mitarbeiter des Migrationsamts im Januar am Ende der zweiten Befragung wissen will, ob es im Falle ­eines negativen Asylentscheids weitere Gründe gebe, die gegen seine Rückkehr sprechen, sagte er: «Wie soll ich nach allem zurück nach Eritrea gehen? Um in die Schweiz zu kommen, musste ich durch die Sahara reisen. Es gab nichts zu essen, nichts zu trinken, es gab sehr viele schwierige Situationen. Eine Rückkehr  kommt nicht in Frage.»

Sie tauchen aus Angst ab

Das Zentrum Bäregg GmbH ist für die Unterbringung und Betreuung der unbegleiteten Minderjährigen im Kanton Bern zuständig. Das sind zurzeit 412 Jugendliche.  Gesamtleiterin Daniela Enzler beobachtet, dass seit Anfang Jahr noch deutlich mehr Kinder verschwinden als im Vorjahr. Enzler führt das Phänomen auf die Praxisänderung des Bundes gegenüber eritreischen Asylsuchenden zurück. Denn Abtauchen würden die Minderjährigen meist aus Angst vor einem negativen Entscheid oder nach einer Ablehnung.

Seit 2016 ist die illegale Ausreise aus Eritrea kein Asylgrund mehr. Dieser Entscheid betrifft vor allem die Minderjährigen: Asyl erhalten Menschen, die vor dem Zwangs­nationaldienst geflohen sind und die nach einer Rückkehr das Foltergefängnis erwartet. Die Minderjährigen sind aber keine Deserteure – sie flüchten eben gerade aus Angst davor, in den Zwangsnationaldienst einberufen zu werden. Das ist das Perfide an der neuen Praxis des Bundes. Nach der Logik des Staatssekretariats für Migration müssten die Jugendlichen auf die Einberufung warten, ehe sie flüchten dürfen. Beim SEM schliesst man den Zusammenhang zwischen der steigenden Zahl verschwundener Minderjähriger und der Praxisänderung nicht aus. Für SEM-Sprecher Lukas Rieder ist das Verschwinden von minderjährigen Flüchtlingen «ein Detail im Gesamtkontext Migration». Er betont, jedes Asylgesuch werde sorgfältig geprüft.

Am 9. März eine Nachricht von Kifron: «Schweiz sagt raussen.» Es ist seine Kurzversion dessen, was ihm das Migrationsamt in einem längeren Brief mitgeteilt hat. Sein Asylgesuch ist abgelehnt, er muss die Schweiz verlassen. Hier bekommt er höchstens Nothilfe, im schlimmsten Fall muss er damit rechnen, in Haft genommen zu werden.

Es existiert kein Rücknahmeabkommen

In Tat und Wahrheit ist die Ausschaffung von Eritreern gar nicht möglich: Mit Eritrea existiert kein Rücknahmeabkommen. Und ein solches Abkommen ist auch auf lange Zeit hinaus nicht in Sicht.

Kifron weiss das alles nicht. Er hat Angst. Er denkt nur noch darüber nach, wo er hingehen soll. Er wird noch stiller. Seine Betreuer in der Asylunterkunft sind besorgt.

Was in Flüchtlingskindern vorgeht, weiss Fana Asefaw, leitende Ärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Privatklinik Clinea im Ambulatorium Winterthur. Mehrere ihrer Patienten sind bereits verschwunden. Darunter ein 17-jähriges Mädchen, das auf der Flucht vergewaltigt worden war und nach dem negativen Entscheid an Angstzuständen litt. In einer noch unveröffentlichten Studie mit 65 minderjährigen Flüchtlingen zeigt die Ärztin auf, dass Jugendliche mit einem unsicheren Asylstatus signifikant häufiger psychische Auffälligkeiten entwickeln als Gleichaltrige, die einen sicheren Status und eine Tagesstruktur haben. Für die Ärztin ist die Behandlung der Minderjährigen frustrierend, da sie an den unsicheren Umständen nichts ändern kann. Asefaw sorgt sich aber nicht nur um die Jugendlichen, sondern auch um steigende Behandlungskosten.

Die Stiftung Kinderschutz pocht auf das Recht für besonderen Schutz der minderjährigen Asylsuchenden, und zwar unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Die Praxisänderung habe schwerwiegende Konsequenzen für die Kinder: Tauchen sie unter, weil ihnen ein Negativentscheid droht, verlieren sie jeglichen Schutz. «Sie laufen Gefahr, Opfer von Ausbeutung, sexuellem Missbrauch und Kinderhandel zu werden», sagt Géraldine Merz von Kinderschutz Schweiz. Stephan Fuchs von Trafficking.ch, einer Organisation gegen Menschenhandel, befürchtet, die Minderjährigen könnten Opfer von kriminellen Banden werden. Dadurch könnte sogar eine neue Generation von Kriminellen entstehen. Kriminelle, die sich in mafiösen Strukturen bestens auskennen, transnational organisiert und gewohnt sind, im Untergrund zu überleben.

Er hofft, in Holland bleiben zu können

Es ist der 31. März. Kifron steht mit allem, was er besitzt, am Hauptbahnhof Zürich. Würde er fliegen, wäre es Handgepäck. Er hat keinen Ausweis, aber 200 Franken – von ­einem Freund, wie er sagt. Er kauft ein Ticket nach Bremen (D). Er habe dort einen Freund, sagt er. Nachts um 1.20 Uhr die Nachricht. «Ich bin in Den Haag.» Dann tagelang keine Nachricht mehr. Der Grund: Kifron verbringt die erste Nacht in Holland am Bahnhof – und wird ausgeraubt. Sein Handy wird ihm gestohlen. Jetzt ist er in einer Asylunterkunft. Er hofft, dass er in Holland bleiben kann. Kifron schläft nun oft tagsüber und liegt nachts wach.

Während er schläft, kommen neue Boote in Italien an. Immer öfter sind alleinreisende Minderjährige an Bord. Im letzten Jahr wagten 25'800 Kinder und Jugendliche die Überfahrt alleine.

*Name von der Redaktion geändert

Kinder-Vertreiben für Anfänger

Kommentar von Aline Wüst, Reporterin

Ein Jugendlicher aus Huttwil überquert die Grenze in Chiasso, schlägt sich in Rom auf der Strasse durch und verkauft in Sizilien seinen Körper, um die Überfahrt nach Li­byen zu verdienen. Später leidet er Durst in der Sahara, Einsamkeit im Sudan und Heimweh am Ziel in Eritrea. Nach Hause schreibt er tapfer: «Hie aues guet.» Von Afrika haben die zu Hause ja sowieso keine Ahnung.

Sich die Realität mit anderen Protagonisten vorzustellen, ist schwierig. Wahr ist: Eritreische Jugendliche werden seit der Verschärfung der Asylpraxis immer häufiger abgewiesen und aufgefordert, das Land zu verlassen. Am Telefon kann sich zuerst nicht einmal der Mediensprecher des Staatssekretariats für Migration vorstellen, dass sein Amt das tut. Das sei rechtlich gar nicht möglich, sagt er. Doch es passiert. Die Auswirkungen sind verheerend: Viele Jugendlichen verschwinden aus Angst. Und wieder sind sie auf der Flucht – schutzlos und verletzlich. Nach Hause schreiben sie tapfer: «Hie aues guet.» Von Europa haben die zu Hause ja sowieso keine Ahnung.

Es wären die Eltern, die diese Jugendlichen schützen müssten. Die Eltern haben das nicht getan. Nun muss gezwungenermassen die Schweiz diese Aufgabe übernehmen. Doch sie lässt die jungen Flüchtlinge hängen. Sie sagt: «Hie aues guet», und schaut weg.

Aline Wüst, Reporterin

Kommentar von Aline Wüst, Reporterin

Ein Jugendlicher aus Huttwil überquert die Grenze in Chiasso, schlägt sich in Rom auf der Strasse durch und verkauft in Sizilien seinen Körper, um die Überfahrt nach Li­byen zu verdienen. Später leidet er Durst in der Sahara, Einsamkeit im Sudan und Heimweh am Ziel in Eritrea. Nach Hause schreibt er tapfer: «Hie aues guet.» Von Afrika haben die zu Hause ja sowieso keine Ahnung.

Sich die Realität mit anderen Protagonisten vorzustellen, ist schwierig. Wahr ist: Eritreische Jugendliche werden seit der Verschärfung der Asylpraxis immer häufiger abgewiesen und aufgefordert, das Land zu verlassen. Am Telefon kann sich zuerst nicht einmal der Mediensprecher des Staatssekretariats für Migration vorstellen, dass sein Amt das tut. Das sei rechtlich gar nicht möglich, sagt er. Doch es passiert. Die Auswirkungen sind verheerend: Viele Jugendlichen verschwinden aus Angst. Und wieder sind sie auf der Flucht – schutzlos und verletzlich. Nach Hause schreiben sie tapfer: «Hie aues guet.» Von Europa haben die zu Hause ja sowieso keine Ahnung.

Es wären die Eltern, die diese Jugendlichen schützen müssten. Die Eltern haben das nicht getan. Nun muss gezwungenermassen die Schweiz diese Aufgabe übernehmen. Doch sie lässt die jungen Flüchtlinge hängen. Sie sagt: «Hie aues guet», und schaut weg.

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