Die Szene könnte aus dem Drehbuch eines Gangsterfilms stammen: Der Bandenboss trifft sich mit einem Grasdealer, um angebliche Schulden einzutreiben. Seine Gang schleppt den Mann in ein dunkles Waldstück. Dort muss er sein eigenes Grab schaufeln. Später schmeissen die Männer ihr gefesseltes Opfer aus einem Auto. Lassen es im Schnee liegen. Mit der Warnung: Wenn der Mann nicht bezahle, werde das Spiel weitergehen. Doch die Szene stammt nicht aus einem Thriller, sie spielt am 20. Februar 2013 in der Nähe von Winterthur ZH. Der Bandenboss heisst Tobias Kuster (23) – es ist der Mann, der jetzt im Zusammenhang mit dem Tötungsdelikt im Zürcher Seefeld von der Polizei gesucht wird.
Die mafiamässige Entführung ist nicht die einzige Straftat, die auf das Konto von Kuster geht. «Der Beschuldigte hat sich nicht nur für eine Freiheitsberaubung, sondern auch für das halbe Strafgesetzbuch zu verantworten», erklärte der Richter des Zürcher Obergerichts bei einem Berufungsprozess im September 2015. Das Obergericht bestätigte das Urteil des Bezirksgerichts: Fünf Jahre kassierte der Winterthurer unter anderem für Freiheitsberaubung, versuchte räuberische Erpressung, Widerhandlung gegen das Waffengesetz und versuchten Raub. Seither sass Kuster im Knast. Bis ihm die Behörden am 22. Juni einen eintägigen Hafturlaub gewährten – und er nicht in die Strafanstalt Pöschwies zurückkehrte.
Trotz der Vorstrafen schien Kuster offenbar nicht gefährlich genug. Die Behörden entscheiden sich gegen eine öffentliche Fahndung. Als am Donnerstag ein 42-jähriger Schweizer im Zürcher Seefeld-Quartier getötet wird und die Polizei einen Verdächtigen festnimmt, sucht die Polizei bereits seit einer Woche nach Kuster. Erst am Samstag entscheidet sich die Staatsanwaltschaft für einen öffentlichen Fahndungsaufruf – weil der Entflohene als Mittäter im Tötungsdelikt in Frage kommt.
Staatsanwaltschaft und Polizei schlagen Alarm, sie stufen Tobias Kuster als gewaltbereit ein. «Er dürfte bewaffnet sein», heisst es im Fahndungsaufruf. «Die Kantonspolizei empfiehlt, sich vorsichtig zu verhalten.» Die Meldung erfolgt zwei Tage nach dem Mord und neun Tage nach Kusters Hafturlaub.
Dass die Einschätzung zur Fluchtgefahr bei Kuster offensichtlich falsch gewesen sei, gibt auch Thomas Manhart, Chef Justizvollzug im Kanton Zürich, zu. «Das heisst aber nicht, dass der dazu nötige Prozess falsch abgelaufen ist», sagt Manhart gegenüber der «NZZ am Sonntag». Das Amt für Justizvollzug werde den Fall nun analysieren.
Für BLICK war gestern niemand für eine Stellungnahme erreichbar. Für SVP-Kantonsrat Claudio Schmid (44) ist die Reaktion des Amts für Justizvollzug nicht nachvollziehbar: «Wieso die Behörden erst nach neun Tagen öffentlich nach dem Mann fahnden, ist mir ein Rätsel. Was gibt es denn Schwereres, als das, was er bereits gemacht hat?», so Schmid. Es sei schon das dritte Mal in diesem Jahr – Schmid erwähnt den Fall Flaach – in dem falsch reagiert wurde.