Pflege-Skandal: 156 Stunden Dauereinsatz pro Woche
«Wir wurden schamlos ausgenutzt»

Zwei polnische Pflegerinnen packen aus: Ein privates Spitex-Unternehmen liess sie für einen Hungerlohn schuften.
Publiziert: 04.05.2014 um 21:19 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 19:52 Uhr
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Anna Borejsza: «Kochen, putzen, pflegen – ich war immer auf den Beinen»
Foto: Sabine Wunderlin
Von Christoph Lenz

«Gehobene und persönliche Betreuung», «motivierte und ausgeruhte Pflegerinnen»: So wirbt die Küsnachter Spitex-Firma Primula AG im Internet um zahlungskräftige Senioren. Doch die Realität sieht ganz anders aus.

Das zeigen die Geschichten von Anna Borejsza (36) und Grazia Dydymska (48). Beide reisten im Sommer 2013 aus Polen nach Küsnacht ZH. Der Grund war ein Primula-Stelleninserat: 43-Stunden-Woche, 2000 Euro Monatslohn, vier Wochen Ferien und ein kostenloses Zimmer in der Mitarbeiterwohnung. «Faire Sache», dachte Anna. Tatsächlich arbeiteten sie und Grazia viel mehr als vereinbart, teilweise wochenlang fast rund um die Uhr. Für einen Hungerlohn.

Haarsträubende Bedingungen

Arbeitspläne und Aufzeichnungen der Pflegerinnen zeugen von haarsträubenden Bedingungen, zum Beispiel bei Anna. Kaum hat sie ihren Arbeitsvertrag unterzeichnet, lernt sie ihren 24-Stunden-Patienten kennen: einen wohlhabenden Rentner vom Schwyzer Zürichsee-Ufer. Anna bezieht ein Zimmer in seiner Wohnung und beginnt mit der Arbeit.

«Kochen, putzen, pflegen, einkaufen, Gesellschaft leisten – ich war immer auf den Beinen», sagt sie. Auch nachts kann sie sich kaum erholen. Ihr Patient ist gesundheitlich angeschlagen, hat nach einer Operation offene Wunden und Blasenprobleme. Immer wieder muss Anna aus den Federn: Wunden versorgen, Medikamente verabreichen, Tee kochen, beim Gang auf die Toilette helfen.

Allein im August 2013 steht sie gemäss ihren Notizen während 496 Stunden im Einsatz. «Ende Monat hat mir der Chef 2900 Franken in die Hand gedrückt», sagt Anna.

Durchschnittlich 20 Stunden pro Tag

Noch grösser ist das Pensum von Grazia. Sie übernimmt den Rentner von der Zürcher Goldküste im September. Im Oktober kommt sie auf 634 Stunden – durchschnittlich ist sie über 20 Stunden pro Tag bei ihrem Patienten. Mehrmals leistet sie Monstereinsätze: bis zu 156 Stunden am Stück.

Pikant: Die Primula AG rechnet Überstunden penibel ab und stellt sie den Kunden in Rechnung. Es fliesst viel Geld. Grazias Patient überweist zwischen 10'000 und 15'000 Franken pro Monat. Nur die Pflegerinnen sehen kaum etwas davon. Grazias Lohn für 634 Einsatzstunden im Oktober: 3377 Franken.

Ende Jahr haben Anna und Grazia die Nase voll. «Arbeitsbedingungen wie bei Primula wären in Polen undenkbar. Wir wurden schamlos ausgenutzt», sagt Grazia. Sie kündigt im Dezember, Anna im Januar. Und beide fordern Lohn für die Überzeit. Es geht um viel: Für Anna haben sich 436 Überstunden angesammelt, für Grazia gar 986. Bis heute warten sie auf ihr Geld.

Primula-Chef schweig

Primula-Chef Daniel Hoss will sich auf Anfrage nicht äussern, weder zu den Monstereinsätzen noch zu den mageren Löhnen, von denen Anna und Grazia berichten. Gemäss einem Schreiben anerkennt Hoss nur einen Teil von Annas Überstunden. Grazias Forderung bestreitet er.

Grazias Patient hingegen stärkt den Pflegerinnen den Rücken: Er bestätigt die Einsatzzeiten. «Grazia war eigentlich immer bei mir zu Hause. Dafür habe ich sie ja engagiert. Ich bin darauf angewiesen, dass jemand für mich sorgt. Vor allem auch in der Nacht.» Nur an Wochenenden habe er Grazia teils entlasten können, sagt er.

Der Überstundenstreit könnte vor Gericht enden. Bei der Gewerkschaft Unia, die Anna und Grazia hilft, gibt man sich kämpferisch. «Primula-Chef Hoss lässt seine Mitarbeiterinnen arbeiten bis zum Umfallen. Die Ausnutzung hat System», sagt der zuständige Unia-Sekretär.

Verband will Primula untersuchen

Auch in der Branche wird man nun aufmerksam. Der Verband Spitex Privée Suisse will Primula unter die Lupe nehmen. Es droht der Ausschluss aus dem Verband. Präsident und SVP-Nationalrat Rudolf Joder macht klar: «Wir legen grossen Wert auf hohe Pflegequalität und wollen keine schwarzen Schafe in unseren Reihen.»

Schockiert ist man beim  Betreuungsverband «Zu Hause leben». «Diese Zustände sind unhaltbar», sagt Präsidentin Margaretha Stettler. «Solche Fälle bringen die Branche in Verruf.» Umso wichtiger sei jetzt ein griffiger Gesamtarbeitsvertrag (siehe Box). «Wir wollen eine saubere Branche.»

Immerhin: Für Anna und Grazia hat die Geschichte ein Happy End. Als Grazia die Skandalfirma verlässt, wird sie von ihrem Patienten privat angestellt. «Jetzt kann ich sicherstellen, dass Grazia fair entlöhnt wird», sagt der Rentner. Auch Anna hat einen neuen Job: bei einem Seniorenzentrum in der Zentralschweiz. «Die Arbeit ist immer noch streng», sagt sie. «Aber jetzt stimmen auch der Lohn und die Ruhezeiten.»

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