Am Morgen des 30. August 2010 will sich Edith Gloor von ihrer Last befreien. Seit Tagen leidet sie unter Verstopfungen. «Ich setzte mich aufs WC, beugte mich nach vorne und drückte», sagt die in Zürich lebende Theaterautorin. Das Geschäft glückt. Doch beim Händewaschen passiert es: Edith Gloor bricht zusammen. «Ich spürte meine Beine nicht mehr.» Im Spital die Schockdiagnose: Lähmung. Auf dem WC hat sie sich so gekrümmt, dass eine bereits beschädigte Bandscheibe die Nervenstränge oberhalb der Taille fast ganz durchtrennt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder laufen kann, schätzen die Ärzte auf fünf Prozent.
Die Chirurgen versuchen die durchtrennten Fäden wieder miteinander zu verbinden. Sie können aber nicht die alten Verbindungen wiederherstellen, sondern müssen neue knüpfen. Wochenlang liegt Gloor im Spital. Sie muss lernen, die Nervenstränge neu zu programmieren: «Das funktioniert hauptsächlich über Einbildungskraft. Man muss sich die Bewegungsabläufe immer wieder vorstellen.»
Statt an dieser Aufgabe zu verzweifeln, blendet Gloor die Aussenwelt in dieser Zeit aus und konzentriert sich auf ihre Genesung. Sie empfängt keine Besuche, liest keine Zeitung, guckt keine Nachrichten. Nur eine Stunde am Tag telefoniert die damals 68-Jährige mit ihrem Mann und den beiden erwachsenen Kindern.
Nach neun Wochen kann sie an Stöcken gehen und kommt in die Reha. «Dort war ich auch neun Wochen. Danach konnte ich mich in der Öffentlichkeit mit Stöcken bewegen.» Statt sich Hilfe zu suchen, kümmert sich Gloor um den Haushalt: «Es ging alles nur im Schneckentempo, aber nach und nach wurde es immer besser.»
Heute macht Gloor wieder mehrstündige Wanderungen. Sie geht zur Physiotherapie und spürt, wie die Nervenstränge langsam nachwachsen. Nur manchmal, wenn sie unkonzentriert ist, fällt sie hin.
Über ihre Heilung hat Gloor ein Buch geschrieben – mit dem passenden Titel «Holy Shit» Noch einmal erleben will sie das alles nicht. «Ich möchte die Erfahrung aber auch nicht missen. Seitdem lebe ich bewusster.»