Oft erhielt sie Prügel. Nachts nässte sie das Bett. Vor dem Frühstück musste die Sechsjährige ihr Laken waschen. Als sie zu Tisch kam, waren Butter und Konfitüre bereits weg. Ihr blieb nur hartes Brot. Nach dem Essen schrubbte sie die Treppen, bohnerte die Böden. Hungrig ging sie zur Schule.
Als uneheliches Kind kam Renata Hanslin 1941 zur Welt. Sie erhielt einen Vormund und wurde verdingt. Jahrelang schuftete sie bei Pflegefamilien – unentgeltlich.
Anfang 2013 sah sie die Akten ihrer Fürsorge. Und fand darin Geld.
Der Kindsvater hatte Alimente auf ein Sparheft der Thurgauer Kantonalbank (TKB) einbezahlt, ausgestellt auf den Namen Renata Hanslin. Die Nummer des Heftes: 6939.
Ihr Vormund erstellte 1953 eine Schlussrechnung. Damals heiratete ihre Mutter. Auf Renatas Konto lagen 3525 Franken. Die Behörden wiesen die Mutter an, «das Sparguthaben weiterhin im Depot des Waisenamts» zu belassen. Seither fehlt vom Geld jede Spur.
Verschollene Sparhefte sind eine neue Dimension in einem dunklen Kapitel Schweizer Geschichte. Hunderte Verdingkinder lernen derzeit aus ihren Akten: vor 50, 60, 70, 80 Jahren gab es Sparhefte auf ihren Namen. Diese sind verschwunden.
Neuerdings wissen misshandelte und versklavte Schweizer: Sie sind zusätzlich bestohlen worden.
Als Täter kommen der Vormund in Frage, der Pflegevater, der Pfarrer, Behörden. Oder die Vermögen wurden liquidiert, da sie jahrzehntelang nachrichtenlos waren. Banken spürten die Besitzer nicht auf. Sie stammten aus zerrütteten Familien, oft wechselten ihre Namen.
Renata Hanslin heisst heute Renata Nydegger. Sie wandte sich im August 2013 an die TKB, hoffte auf Hinweise auf ihr Konto. Ernüchternd die Antwort der Bank, verfasst am 13. September: «Wir verfügen über keine Informationen betreffend das von Ihnen erwähnte Sparheft Nr. 6939 aus dem Jahr 1953.» Die Kantonalbank weiter: «Wir müssen davon ausgehen, dass das Sparheft rechtmässig aufgelöst oder gar nie ausgestellt wurde.»
Für Nydegger «ein Hohn», sagt sie. Das Konto erscheint mehrmals in ihren Akten. Sie verlangte 1957 und 1968 Einsicht. Die Behörden lehnten ab. Seit 1953 warf ein Sparkonto im Schnitt 2,65 Prozent Zins ab. Demnach wäre Nydeggers Vermögen auf 17 380 Franken angewachsen. «Geld, das ich gut gebrauchen könnte», sagt die einstige Schauspielerin und Souffleuse.
Nydegger ist kein Einzelfall. «Es melden sich viele ehemalige Verdingkinder, die in ihren Akten Sparhefte entdecken», sagt Walter Zwahlen (65), Präsident vom Netzwerk Verdingt. Alle wollen wissen: Wo ist unser Geld? «Es ist meist gestohlen worden.»
Mit 5 Jahren begann Armin Leuenberger auf einem Hof in Fribourg Tiere zu füttern, Ställe zu reinigen, Heu zu holen. Lohn erhielt er nie.
Und doch hatte er Geld. In den Akten fand der heute 69-jährige Chauffeur einen Eintrag für ein Konto bei der Schweizerischen Volksbank, Heftnummer: 76 207. Am 9. Mai 1966 betrug sein Vermögen 1481 Franken und 75 Rappen. Seither ist es nachrichtenlos. Ob das Konto noch besteht, weiss er nicht. Mit Zinseszinsen hätte es heute einen Wert 5197.40 Franken.
Ein Betrag, um den Leuenberger wohl betrogen worden ist. Sein Vormund hielt jeweils fest, das Konto sei leer. Aus der Vormundschaft entliess er Armin als einen «ohne Vermögen». Eine klare Lüge.
Rund eine halbe Million Kinder waren in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert verdingt worden. Die Behörden rissen sie aus armen Familien, platzierten sie als Gehülfen und Mägde auf Höfen. Sie leisteten Gratisarbeit im Umfang von 20 Milliarden Franken, so ein UBS-Ökonom 2011 im SonntagsBlick.
Die Höhe ihrer verschollenen Vermögen zu beziffern, ist komplex. Hätte aber eine halbe Million einstiger Verdingkinder je ein Sparheft in der Höhe von 2000 Franken gehabt, wären das mit Zinsen nach 50 Jahren 3 697 836 333 Franken, also 3,7 Milliarden Franken.
Woher stammt das Geld? Pflegefamilien erhielten nicht nur kostenlose Arbeitskräfte, sondern Kostgelder von Eltern oder Gemeinden. Sie zahlten sie auf Sparhefte ein. Vormunde verwalteten die Vermögen. Brauchte ihr Mündel einen warmen Mantel oder Schuhe, bedienten sie sich an seinem Konto.
Viele traten mit 14 Stellen an, als Knechte oder Haushaltshilfen. Ihr karger Lohn verwaltete der Vormund über ein mündelsicheres Konto. Von 60 Franken Monatsgehalt überliess er ihnen 5 Franken, so der Zürcher Historiker Thomas Huonker (60). «Das reichte für Most am Sonntag.» Wer rauchte, kam finanziell in die Klemme. «Deshalb wurden einige Verdingkinder kleinkriminell. Sie hatten zwar Geld, konnten aber nicht darüber verfügen.»
Nach Ende der Fürsorge musste der Vormund jeweils eine Schlussrechnung erstellen – und das Geld aushändigen. In vielen Akten aber fehlt diese Rechnung, oder sie ist schlicht falsch. Wohl, weil eine Unterschlagung vertuscht wurde.
Das Bundesamt für Justiz geht von 400 Millionen Franken nachrichtenloser Vermögen auf Schweizer Banken aus. Ab 1. Januar 2015 liquidieren Banken diese Gelder nach fünfzig Jahren. Sie fallen dem Staat zu. Das Gesetz gilt rückwirkend – zum Nachteil der etwa 10 000 noch lebenden Verdingkinder. Viele sind betagt, ihre Konti seit über 50 Jahren nachrichtenlos. Rasch müssten deren Besitzer gefunden werden.
Die Forschung dazu ist aufwendig. Schweizer Grossbanken kennen sich darin aus. Mitte 90er-Jahre zahlten UBS und Credit Suisse 1,25 Milliarden Dollar an Flüchtlinge aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs – auf Druck der USA. Hunderte Berater beschäftigten die Banken, um Gelder aufzuspüren. Ein Aufwand, der Verdingkindern ebenfalls zustünde. Obwohl für sie niemand Druck ausübt.