Als der Mann mitten in der Nacht auf einer Autobahnraststätte anhielt und in einer fremden Sprache ins Telefon schrie, wusste Veronika Helk: Jetzt bist du verloren. Mulmig war ihr bereits, als der Mann ihr vor der Schweizer Grenze Pass und Geld abnahm. Aber da vertraute sie ihm noch. Er war schliesslich ihr Freund.
Sie war eine 19-jährige Studentin aus einem Dorf im Norden Tschechiens. Er ein vermeintlich 35-jähriger Schweizer Firmeninhaber auf Geschäftsreise. Zufällig lernten sie sich kennen, freundeten sich an. Weil sie gut Englisch und Deutsch sprach, bot er ihr einen Job als Übersetzerin für seine Firma in der Schweiz an. Aus ihrem Dorf wollte sie schon lange weg. Sie unterschrieb den Arbeitsvertrag.
In der Schweiz angekommen, verkaufte sie der Mann bereits in der ersten Nacht an einen Freier. Es begann ein monatelanger Horror.
Heute, 17 Jahre später, arbeitet Veronika Helk (37) als Sozialpädagogin mit Autisten in Basel. Sie studiert an der Fachhochschule, ist verheiratet, hat eine Tochter. Ein normales Leben – wäre nicht diese «Angelegenheit». So nennt sie die Horrorzeit, in der sie von Menschenhändlern versklavt, verprügelt, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen wurde.
Dass sie immer noch darüber spricht, hat einen Grund: «Ich will andere Betroffene ermutigen, aufzustehen und für ihre Würde zu kämpfen.» Pros-titution sollte verboten werden, findet sie. «Ich habe nie eine Frau getroffen, die das freiwillig machte.» Vor allem will sie nicht bloss als Opfer gelten. Das sei schlimmer als die Vergewaltigungen. «Ich bin mehr. Ich habe eine Familie, einen Beruf, Träume und Ziele. Und meine Würde.»
Bedroht und vergewaltigt
Weil sie sich damals gegen den ersten Freier wehrte, steckte ihr der Entführer eine Pistole in den Mund und vergewaltigte sie. Dann vergewaltigten sie die anderen Männer des Menschenhändlerrings. «Von da an war ich nur noch ein Stück Fleisch.»
An Freier wurde sie privat vermittelt, sagt Helk. Die Zuhälter schoben sie wie Ware herum, nach Delsberg, Biel BE, Basel. In kleinere Orte, deren Namen sie vergessen hat. «Da grasten Kühe und waren die Wiesen grün, wie im Paradies.» Doch sie erlebte die Hölle. Einmal fuhren ihre Peiniger mit ihr in einen Wald und drohten, sie umzubringen, falls sie nicht gehorche. Auch ihre Eltern seien dann dran.
Nach einigen Monaten war sie gebrochen. Sie ass nicht mehr, war dürr, bleich, stotterte nur noch. Sie litt an Gedächtnisstörungen, wollte sich umbringen. Für die Zuhälter war sie damit wertlos.
Um weiter Geld anzuschaffen, schickten sie Helk als Servicekraft in illegale Lokale. Dort lernte sie eine andere Tschechin kennen. Diese half ihr unterzutauchen. Hätten die Zuhälter ihre Familie bedroht, wäre sie sofort zu ihnen zurück. Doch nichts geschah.
Nach der Flucht begann der Kampf zurück in die Legalität. Helk arbeitete schwarz, nahm jeden Job an, um zu überleben. Irgendwann fasste sie den Mut, ihre Entführer anzuzeigen. Weil die Polizei nicht garantieren konnte, dass ihrer Familie nichts geschehen würde, zog sie die Anzeige zurück. Noch heute, sagt sie, laufen ihre Peiniger frei herum.