Monika P.* (46) steht im Kinderzimmer ihres Bauernhauses in Appenzell, vor einer Wiege aus Holz. Die Ergotherapeutin hat das Bettchen für ihre Enkelin Maria gerichtet. Doch die Wiege ist leer – und Monika P. verzweifelt. Seit Maria am 2. Oktober 2014 das Licht der Welt erblickte, kämpft ihre Grossmutter darum, dass das Mädchen bei ihr lebt.
Monika und ihr Lebensgefährte liessen sich von den Behörden sogar als Pflegeeltern anerkennen. Doch die eigene Enkelin durften sie bis heute nicht aufnehmen.
Die traurige Geschichte beginnt mit einer frohen Botschaft. Im Februar 2014 wird Nadine M. (†36) schwanger. Sie ist mit Severin (27) zusammen, dem Sohn von Monika P. Die Hoffnung auf ein Kind hatte das Paar aufgegeben – umso grösser ist die Freude.
Nadine M. weiss, es wird nicht einfach. Sie war lange drogensüchtig, ist in einem Methadonprogramm. Severin ist nicht abhängig, arbeitete lange in einer Gärtnerei. Der Arzt versichert dem Paar, dem Kind in Nadines Bauch gehe es gut. Sie sind sicher, dass sie gute Eltern sein werden.
Nadine hat einen Beistand, der ihr in finanziellen Fragen zur Seite steht. In der achten Schwangerschaftswoche sagt sie ihm: Sie wolle das Kind nur bekommen, wenn sie es selbst aufziehen kann. Sie wuchs in Pflegefamilien auf, musste unzählige Male Wohnort und Vertrauenspersonen wechseln. Das möchte sie ihrem Baby ersparen.
Doch der Beistand glaubt nicht, dass Nadine und Severin gute Eltern sein werden. Bereits am 4. März 2014 macht er eine Gefährdungsmeldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb). Zwar habe sich der Allgemeinzustand von Nadine M. gebessert, gibt er zu Protokoll.
Dennoch sei er der Meinung, dass «die Kindeseltern nicht über genügend Fähigkeiten verfügen, um selbständig für das Wohl des Kindes sorgen zu können».
Am 2. Oktober bringt Nadine M. im Spital Münsterlingen TG ein Mädchen zur Welt. Maria wiegt fast drei Kilo. Weil ihre Mutter Methadon nimmt, muss das Baby einen Entzug machen. «Sie entwickelt sich gut», vermerken die Ärzte in einem Bericht. Die Eltern sind entschlossen, für ihr Kind zu sorgen.
Doch zwei Wochen nach der Geburt erfahren sie von der Kesb: Sie dürfen Maria nicht nach Hause nehmen. Eine Pflegefamilie ist bereits involviert. Einzige Möglichkeit für die Eltern, ihr Kind doch noch zu bekommen: Die Behörden geben ihnen zwei Wochen Zeit, um eine Nanny zu finden, die ihnen in einem Vollzeitpensum zur Seite steht. Die Lohnkosten müssen die Eltern übernehmen. Da bietet Monika P. an, Maria zu sich zu nehmen. «Wir wollten alles tun, damit die Kleine bei ihrer Familie sein kann.»
Doch am 19. November entzieht die Kesb den Eltern in einem superprovisorischen Entscheid die Obhut über Maria: Das Baby wird aus der Klinik entlassen – und kommt direkt zur Pflegefamilie.
Für Nadine und Severin bricht eine Welt zusammen. Sie wird rückfällig, nimmt wieder Drogen. Mit Hilfe einer Rechtsanwältin fechten sie den Entscheid der Kesb beim Obergericht Thurgau an. Dieses kritisiert, dass die Eltern nicht angehört wurden, als es um die Fremdplatzierung ging. Vor diesem Hintergrund müsse die Vorinstanz weitere Abklärungen machen und die getrennte Befragung der Eltern nachholen.
Doch dazu kommt es nicht. Am 16. April findet Severin seine Freundin tot in ihrem Bett. Woran sie starb, ist unklar. Für Tim Walker, den Anwalt von Monika P., steht fest: «Die Kindeswegnahme ist Hauptursache für den Tod von Frau M.» Dies habe sie in eine tiefe psychische Krise gestürzt und zeige, «wie gross die Verantwortung der Behörden ist».
Verantwortlich für den Fall ist die Kesb Arbon TG. Präsident Andreas Hildebrand bedauert den Tod von Nadine M. Unklar sei, «ob ein Zusammenhang zwischen dem Tod und dem Entscheid der Kesb besteht».
Von Verfahrensfehlern will er nicht sprechen: «Wenn ein oberes Gericht einen Fall zur Ergänzung des Sachverhalts in gewissen Punkten an die Vorinstanz zurückgibt, dann handelt es sich nicht automatisch um Verfahrensfehler der ersten Instanz.» Allerdings sei die Kesb nun daran, den Fall noch einmal zu prüfen. Erste Anhörungen hätten stattgefunden.
Monika P. hofft, dass die Behörden ihren Entscheid rückgängig machen – und Maria zurück zu ihrer Familie geben. «Sie gehört zu uns», sagt die Grossmutter. «Auch wenn es für Marias Mutter leider zu spät ist.»