Tamara (33) ist eingeschränkt aufnahmefähig. Bekannte kennen sie als verschlossene junge Frau. Wenn sie spricht, dann nur einzelne Wörter. Geht es ihr gut, ist sie ruhig. Belastet sie etwas, ist sie laut und unruhig.
Bis im Sommer 2013 wohnte Tamara bei ihrer Mutter in Mörel VS. «Ich machte mir zunehmend Sorgen, wer sich um sie kümmern wird, wenn ich einmal nicht mehr für sie sorgen kann», erklärt Ursula Imwinkelried (55) die damalige Situation. Als Tamara im Sommer 2013 in eine Wohngruppe des Oberwalliser Behindertenwohnheims Insieme zog, hatte sie dort ein eigenes Zimmer in einer betreuten Wohngemeinschaft.
Tagsüber ging Tamara zur Arbeit in eine Behindertenwerkstätte. Im Dezember 2013 bemerkte Imwinkelried, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. «Sie war unruhig, schrie herum und wiederholte immer wieder denselben Namen, den Namen eines ebenfalls behinderten Mitbewohners.»
Zusätzlich verweigert sie das Essen, will nicht mehr zur Arbeit. Ursula Imwinkelried kennt ihre Tochter gut, sie hat eine böse Ahnung. Sie macht Insieme erstmals darauf aufmerksam, ihre Tochter könnte Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sein. Die Heimleitung nimmt ihren Verdacht nicht ernst.
Dann findet die Mutter heraus: Insieme weiss, dass ein behinderter Mann seine Mitbewohner und selbst Betreuerinnen regelmässig unsittlich berührt. Darauf lässt Imwinkelried ihre Tochter im Juni 2014 von einer Psychologin abklären. Dabei kommt heraus: Der Mitbewohner berührte Tamara wiederholt an den Brüsten und bedrängte sie. Die Vorfälle passierten im Dezember 2013 und im Mai 2014.
Die Wohngruppenleiterin F.* übt Druck auf Tamara aus: Sie dürfe nichts von den Übergriffen erzählen. «Das verängstigte meine Tochter noch mehr», erinnert sich Imwinkelried. «Niemand glaubte meiner Tochter. Sie musste weiterhin mit dem Täter zusammenarbeiten.» Ein erstes Schreiben von Imwinkelried an Insieme-Direktor Daniel Abgottspon (57) ignoriert dieser. Als Tamara auf dem Jubiläumsfest von Insieme im September 2014 auf den Täter trifft, eskaliert die Situation.
Direktor Abgottspon, das geht aus den Akten zum Fall hervor, droht Imwinkelried mit der Einweisung von Tamara in die Psychiatrie. Als Imwinkelried mit einer Strafanzeige droht, kündigt Insieme im Februar 2015 den Betreuungsvertrag. Daraufhin wohnt Tamara ein paar Monate wieder bei ihrer Mutter, bis ein neues Heim gefunden ist.
Im März 2015 reicht Ursula Imwinkelried je eine Aufsichtsbeschwerde beim kantonalen Gesundheits- und beim Justizdepartement ein. Eine Beschwerde wurde inzwischen abgewiesen, die zweite ist hängig. Drei Wochen danach macht Insieme eine Gefährdungsmeldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Östlich Raron. Das Wohl Tamaras sei durch das Handeln ihrer Mutter gefährdet, schreibt Insieme. Für Imwinkelrieds damalige Anwältin ist klar: «Die Gefährdungsmeldung war eine Retourkutsche.»
Ein Jahr muss Ursula Imwinkelried warten, bis das von der Kesb in Auftrag gegebene Gutachten klipp und klar festhält: «Eine Gefährdung bestand wohl als Tamara innerhalb der Institution lebte, jedoch nicht mehr, als sie zu Hause war.» Den Plan, der Mutter von Tamara die Beistandschaft zu entziehen, begräbt der Verfasser des 23-seitigen Gutachtens in einem Satz: «Es sind keine Gründe erkennbar, die Beiständin auszuwechseln.»
Insieme-Direktor Abgottspon verteidigt sein Vorgehen: «Wir wollten dafür sorgen, dass Tamara nach dem Austritt eine angemessene Unterstützung und Begleitung bekommt.» In einem Interview im «Walliser Boten» kanzelte er die Mutter noch im August als Querulantin ab. Imwinkelrieds Anwalt prüft nun, ob er wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte und übler Nachrede klagen will. Seit letztem Sommer lebt Tamara in einem Heim in der Ostschweiz. Dort erholt sie sich von ihrem Trauma.
Ihr gehe es nicht um den Mann, der die Übergriffe beging, sondern um die Sicherheit ihrer Tochter und aller Bewohner des Heims, sagt Imwinkelried. «Ich will, dass hingeschaut und eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Angehörigen möglich wird.»
*Name der Redaktion bekannt
Sexuelle Übergriffe auf behinderte Personen sind ein verbreitetes Problem, das wissen Behindertenorganisationen. Trotzdem hinken in der Prävention viele Institutionen hinterher, sagt Ueli Affolter (Bild), Geschäftsführer von Socialbern und Sprecher der Charta Prävention, einer 2011 ins Leben gerufenen Plattform gegen sexuelle Gewalt an behinderten Menschen. Damals verabschiedeten Behindertenorganisationen die Charta, um Missbrauch zu verhindern. Gemäss der Charta gilt in Heimen nun eine Null-Toleranz- Politik gegenüber sexuellen Übergriffen. Ausserdem soll über Übergriffe konsequent gesprochen werden – und zwar nicht nur intern, sondern auch gegen aussen. Die Institutionen sollen interne und externe Beratungsstellen für Betroffene einrichten. Niemand habe einen Überblick darüber, wie gross das Problem sei, sagt Affolter. Es gebe lediglich Hinweise: «Studien in Deutschland und Österreich gehen davon aus, dass jede vierte behinderte Person schon einmal Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde.» Ueli Affolter glaubt deshalb, dass es in der Schweiz eine grosse Dunkelziffer gebe: «Nur die wenigsten Übergriffe werden aufgedeckt.»
Sexuelle Übergriffe auf behinderte Personen sind ein verbreitetes Problem, das wissen Behindertenorganisationen. Trotzdem hinken in der Prävention viele Institutionen hinterher, sagt Ueli Affolter (Bild), Geschäftsführer von Socialbern und Sprecher der Charta Prävention, einer 2011 ins Leben gerufenen Plattform gegen sexuelle Gewalt an behinderten Menschen. Damals verabschiedeten Behindertenorganisationen die Charta, um Missbrauch zu verhindern. Gemäss der Charta gilt in Heimen nun eine Null-Toleranz- Politik gegenüber sexuellen Übergriffen. Ausserdem soll über Übergriffe konsequent gesprochen werden – und zwar nicht nur intern, sondern auch gegen aussen. Die Institutionen sollen interne und externe Beratungsstellen für Betroffene einrichten. Niemand habe einen Überblick darüber, wie gross das Problem sei, sagt Affolter. Es gebe lediglich Hinweise: «Studien in Deutschland und Österreich gehen davon aus, dass jede vierte behinderte Person schon einmal Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde.» Ueli Affolter glaubt deshalb, dass es in der Schweiz eine grosse Dunkelziffer gebe: «Nur die wenigsten Übergriffe werden aufgedeckt.»