Heute werde ich häufig gefragt, wann ich zu essen aufgehört habe oder was meine Krankheit ausgelöst hat.
Ich selber kenne die genauen Gründe für meine Magersucht noch immer nicht. Im Laufe der Zeit betrachtete ich gewisse Situationen oder vergangene Momente mit anderen Augen, doch einen klaren Auslöser fand ich nie. Auch kann ich nicht sagen, wann ich mich dagegen entschieden habe, zu essen und zu trinken. Die Krankheit schlich sich langsam in mein Leben und wuchs in und mit mir, bis sie zu einem Teil von mir wurde.
Es begann wohl im Jahr 2005. Ich war zwölf Jahre alt, fröhlich, lebhaft und so weit gesund. Ich glaube, ein im Grossen und Ganzen noch immer sehr zufriedenes und offenes Mädchen gewesen zu sein. (...)
«Ich betrachtete argwöhnisch jede Veränderung an meinem Körper»
Langsam entwickelte ich mich vom kleinen Mädchen zu einem jungen «Fräulein». Was mir an meinem Äusseren nicht gepasst hat, weiss ich nicht mehr genau. Ich betrachtete jedoch argwöhnisch jede Veränderung an meinem Körper und begann mich in meiner Haut immer unwohler zu fühlen. Klar, hatte auch ich das Idealbild einer bezaubernden Frau im Hinterkopf und wollte einen Körper haben, der dem der Cover-Models der «Vogue» nahekam. Somit kamen kleine, eigentliche harmlose und normale Komplexe auf. Die Oberschenkel, die Arme, das Gesicht – plötzlich hatte ich an meinem ganzen Körper etwas auszusetzen und versuchte, die kleinen Fehler zu korrigieren und zu verstecken. (...)
Mit meinem Körper fühlte ich mich aber immer unzufriedener, und ich entschloss mich zu meiner ersten Abmagerungskur. Ich hatte gehört, der Körper verbrauche beim Verdauen der Ananasfrucht mehr Kalorien, als diese selbst hat, und so begann ich eine Ananas-Diät.
Ich zog die Kur zwar noch nicht ganz so konsequent durch und erlaubte mir kleine Ausnahmen. Dennoch ass ich wochenlang nur Ananas und begann mich mehr und mehr auch mit anderen Diäten und Lebensmitteln auseinanderzusetzen. Es wurde mir schnell immer wichtiger, Gewicht zu verlieren, und ich probierte alles Mögliche aus, um dieses Ziel zu erreichen: jeden Abend hundert Rumpfbeugen, schwimmen und joggen gehen, Abführmittel trinken – und bald testete ich jede Diät. (...)
Endlose und tiefe Melancholie
Im Jahr 2007 entwickelte sich die Auseinandersetzung mit mir selbst und dem Essen definitiv in eine schlechte Richtung. Ich verfiel von Tag zu Tag mehr in eine endlose und tiefe Melancholie. In meinem Kopf spielten Lieder, die mich zum Weinen brachten. Mein Bauch war gefüllt mit tiefer Trauer, und mein Herz fühlte sich zerrissen an.
Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Weshalb diese Zweifel, und diese Trägheit?
Aus diesem Frust, dieser Verzweiflung heraus widmete ich all mein Interesse und meine Aufmerksamkeit dem Erlernen des Hungerns, ich flüchtete geradezu in diese Welt. Ich setzte mich nicht bloss mit Lebensmitteln auseinander, nein, ich studierte sie förmlich. Ich lernte die Kalorienmenge pro hundert Gramm sämtlicher Grundnahrungsmittel auswendig. Äpfel 52 kcal, Champignons 12 kcal, Blumenkohl 23 kcal, Magerquark 125 kcal, Haselnüsse 636 kcal, Kartoffeln 70 kcal, Karotten 25 kcal ... Stundenlange Vorträge konnte ich über sekundäre Pflanzenstoffe halten, über Kohlenhydrate, gesättigte und ungesättigte Fettsäuren, die Wichtigkeit von Proteinen. Das war mein Stolz.
Fast alle Lebensmittel von meinem Essplan gestrichen
Ich wollte über einfach jedes Lebensmittel Bescheid wissen und mir darüber im Klaren sein, was genau ich ass. Alles unter Kontrolle haben, das wollte ich.
Natürlich wurde ich dadurch sehr zahlenfixiert. Jede einzelne Kalorie wurde genauestens gezählt und in meinem Kopf gespeichert. Es gab mir ein Gefühl von Sicherheit und Macht über mich selbst. (...)
Fast alle Lebensmittel wurden von meinem Essplan gestrichen. Nichts durfte mehr als 75 Kalorien und 0,5 Gramm Fett enthalten. Dazu versuchte ich täglich, so wenig wie möglich zu trinken. Der Mensch besteht aus ungefähr sechzig bis siebzig Prozent Wasser, und das wollte ich loswerden. (...)
Im August 2009 besuchte ich dann die Handelsschule. Ich war bereits tief gefangen. Tiefer, als es mir bewusst war. Tiefer, als ich es je wollte. (...)
Meine Mutter wurde von Tag zu Tag verzweifelter, denn anscheinend wurde meine Gewichtsabnahme immer auffälliger. Ich wurde auch häufiger auf mein Untergewicht angesprochen. Doch das kam bei mir irgendwie nie an. Noch immer zeigte mir mein Spiegelbild ein rundes, dickes Mädchen. (...)
Angst vor dem Essen
Ich entwickelte eine enorme Angst vor dem Essen. Ich fürchtete mich manchmal mehr davor als vor dem Tod.
Eine Karotte war zu hart für meinen Magen, ich konnte sie nicht verdauen. Gurken hatten zu viel Wasser, Früchte zu viel Zucker, Magerjoghurt zu viel Kalorien. Das Einzige, was noch ging, waren diese geschmacklosen Champignons. (...)
Eines Abends, als mein Vater nach Hause kam, stand er mit einer Überraschung vor der Tür. «Du musst der Realität ins Auge blicken», sagte er. Er sagte dies so liebevoll und beruhigend, dass mir fast Tränen in die Augen schossen. Er hatte mir eine Körperwaage mitgebracht. (...)
Was würde die Waage wohl anzeigen? Ich rechnete mit mindestens 44 Kilo. Endlich schloss ich die Augen und wagte den Schritt. Vorsichtig blickte ich dann auf die Anzeige.
Es war, als ob ein Schnellzug an mir vorbei gedonnert wäre. Ich sah wohl nicht richtig – es waren nicht 44 Kilo. Nein, es waren zehn Kilo weniger. Das konnte nicht sein. Doch auch beim zweiten und dritten Versuch blieb das Ergebnis dasselbe: 34 Kilo. Niemals hätte ich von solch einem Gewicht zu träumen gewagt. Meine Freude war riesig: «Ich habe es geschafft», flüsterte ich leise und unzählige Male, «ich habe es geschafft.»
Etwa 250 000 Menschen erkranken zumindest einmal im Leben an Magersucht, Bulimie oder einer ähnlichen Essstörung. Frauen, meist junge, sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Leonie (heute 20) schildert in einer eindrucksvollen Autobiografie («Federleicht»), die am Freitag erscheint, ihren Kampf gegen die Magersucht. Das 1,57 Meter grosse Mädchen wäre fast gestorben. Leonie wog zeitweise weniger als 30 Kilo und fühlte sich immer noch fett.
Leonie hat die Krankheit, die Sucht besiegt. Ihr Buch ist auch ein Appell an andere Magersüchtige und deren Angehörige, nicht aufzugeben. Anorexia nervosa, so der medizinische Fachbegriff, ist ein mächtiger Feind, aber nicht unbesiegbar!
Leonie ist heute als Flugbegleiterin tätig. Der Traum vom Fliegen war Teil der letzten Hoffnung, als sie dem Tod näher war als dem Leben.
Im ersten Teil unseres Vorabdrucks schildert Leonie, wie sie unbemerkt in die Magersucht rutschte.
Etwa 250 000 Menschen erkranken zumindest einmal im Leben an Magersucht, Bulimie oder einer ähnlichen Essstörung. Frauen, meist junge, sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Leonie (heute 20) schildert in einer eindrucksvollen Autobiografie («Federleicht»), die am Freitag erscheint, ihren Kampf gegen die Magersucht. Das 1,57 Meter grosse Mädchen wäre fast gestorben. Leonie wog zeitweise weniger als 30 Kilo und fühlte sich immer noch fett.
Leonie hat die Krankheit, die Sucht besiegt. Ihr Buch ist auch ein Appell an andere Magersüchtige und deren Angehörige, nicht aufzugeben. Anorexia nervosa, so der medizinische Fachbegriff, ist ein mächtiger Feind, aber nicht unbesiegbar!
Leonie ist heute als Flugbegleiterin tätig. Der Traum vom Fliegen war Teil der letzten Hoffnung, als sie dem Tod näher war als dem Leben.
Im ersten Teil unseres Vorabdrucks schildert Leonie, wie sie unbemerkt in die Magersucht rutschte.