Um vier Uhr in der Früh aufstehen, mit der Sense das Gras unter den Kirschbäumen mähen, ausmisten, den schweren Kanister ins Milchhüsli im Dorf tragen, dann direkt zur Schule. Nach dem Unterricht Kirschen pflücken, erneut aufs Feld, zu den Tieren und dann die Post verteilen.
Das Abendessen muss Pauli allein essen, schliesslich stinkt er noch nach Stall. Dann vergräbt der Bub einsam seinen Kopf ganz tief im Kissen und weint sich in den Schlaf. Wie jeden Abend.
«Nicht nur einmal wollte ich als Kind von der Brücke springen», erinnert sich Paul Richener (67). Der Basler war ein Verdingbub. Bei Bauersleuten in Nusshof BL schuftete er hart für Essen und Unterkunft. Zur Familie gehörte er trotzdem nie ganz: «Ich fühlte mich abgeschoben und allein gelassen.»
Heute ist Paul Richener Gemeindepräsident. Seit 16 Jahren und ausgerechnet in jener Gemeinde, in der er als Verdingkind litt. «Wo hätte ich denn sonst hingehen sollen?», fragt er nachdenklich und ringt nach Worten. «Nusshof ist der einzige Bezugspunkt in meinem Leben!»
Tausende von Verdingkindern
Richener sitzt am Küchentisch seines lichtdurchfluteten Einfamilienhauses. Er nippt an seinem Kaffee, Hündin Ajirah (9 Monate) tobt durch den grossen Garten. Auf die Idee, dass dieser adrett gekleidete Mann sein Leben lang unten durch musste, käme niemand. «Ich habe meine Kindheit lange verdrängt und nie psychologische Hilfe beansprucht», sagt er. Jetzt, nach seiner Pension, will er reden. «Die Leute müssen wissen, welches Unrecht damals in der Schweiz begangen wurde.»
Je nach Schätzungen sind es 15'000 bis Hunderttausende, welche bis in die 70er-Jahre wie Richener verdingt wurden. Im Buch «Glück ist Leben» erzählen er und elf weitere Menschen ihre bemerkenswerte Lebensgeschichte.
Für Paul Richener, den Sohn einer Italienerin und eines Schweizers, begann sie lange bevor er mit zwölf Jahren nach Nusshof kam. Weil seine Eltern nicht für ihn sorgen konnten, landete er bei einer Pflegefamilie in Basel.
Dort erlebte der kleine Paul, damals sechs, die schlimmste Demütigung seines Lebens. Jeden Abend musste er an den Esstisch der Familie treten und sich bis auf die Unterhosen ausziehen. «Der Pflegevater kontrollierte dann, ob sie sauber waren. Die Kinder lachten schallend.» Noch lauter wurde das Gelächter, wenn er ihm die dreckigen Unterhosen ins Gesicht schmierte. «Das Ganze gibt mir noch heute zu denken», so Richener.
Das Erlebte verfolgt Richener bis heute
Unrecht erlebte Paul Richener nicht nur von seinen Pflegeeltern, sondern auch vom Staat. Während der Lehre zum Hochbauzeichner – Richener wohnte noch immer auf dem Bauernhof – wartete eines Mittags die Vormundin vor dem Haus. Ohne Erklärung wurde er mit 16 für viereinhalb Jahre ins Jugendgefängnis gesteckt. «Bis heute weiss ich nicht warum, ich habe nichts getan», so Richener. Im Gefängnis musste er eine Gärtnerlehre machen. Später wurde er sogar Polizist und Polizeilehrer. Denn sein Glaube an die Gerechtigkeit sei unerschütterlich, betont er. «Ich wollte Menschen vor jener Ungerechtigkeit bewahren, die mir widerfahren ist.»
Die Willkür, die Schläge und die Erniedrigungen verfolgen Richener bis heute. «Ich habe noch immer wenig Selbstvertrauen und stelle das Wohl anderer stets vor mein eigenes.» Nicht nur im Beruf, auch als Vater eines mittlerweile 40-jährigen Sohnes. «Ich war viel zu lieb und zu gutmütig – und bin es bis heute geblieben.»
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