Pädagoge Jürg Jegge spricht erstmals über Kindsmissbrauch
«Es waren auf jeden Fall weniger als zehn Buben»

Pädagoge Jürg Jegge (74) hat sich seit Dienstag in sein Häuschen zurückgezogen und geschwiegen. Er müsse zuerst lesen, was sein ehemaliger Schüler über ihn geschrieben habe, sagt er. Am Donnerstag hatte er das Buch endlich beendet. «Kommen Sie doch herein», sagt er, als BLICK bei ihm klingelte. An seinem Küchentisch sprach er dann über die Missbrauch-Vorwürfe. Er sagt: «Ich ging mit bester Absicht vor.»
Publiziert: 07.04.2017 um 17:24 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 01:53 Uhr
Aline Wüst (Text) und Sabine Wunderlin (Fotos)

BLICK: Ihr ehemaliger Schüler Markus Zangger beschreibt in einem Buch, wie er von Ihnen jahrelang sexuell missbraucht wurde. Stimmt es, was im Buch steht?
Jürg Jegge:
Ich muss es vielleicht so sagen, ich habe mich als Lehrer wahnsinnig für meine Schülerinnen und Schüler eingesetzt. Das ging so weit, dass die Schüler bei mir zu jeder Tag- und Nachzeit reinlaufen konnten.

Stimmt es, was im Buch steht?
Zwei Sachen waren mir damals wichtig. Das eine war die seelische Stärkung der Kinder, das andere war möglichst viel Anregung. Im Rahmen dieser seelischen Stärkung war das dazumal in diesem grün-linken Kuchen und in der Zeit der sexuellen Befreiung wirklich fast Allgemeingut.

Sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern waren auch damals kein Allgemeingut.
Allgemeingut ist vielleicht übertrieben, aber es wurde schwerstens diskutiert, es gab Tagungen und Bücher dazu. Mir ging es nicht nur um die sexuelle Befreiung, sondern ich habe mich generell für ein anderes Körpergefühl eingesetzt.

Kam es zu sexuellen Kontakten?
Ja, es kam zu sexuellen Kontakten. Ich habe das damals als spielerisch angeschaut. Wir haben viel gelacht.

Jürg Jegge im Gespräch mit BLICK.
Foto: Sabine Wunderlin

Die geschilderten Vorfälle stimmen.
Viele Details habe ich ganz anders in Erinnerung. Andere habe ich gar nicht mehr in Erinnerung. Das Buch ist die Erinnerung von Markus Zangger.

Wieviele Opfer gibt es?
Es sind ein paar. Was ich nicht will, ist, dass man jetzt damit beginnt, die Beteiligten auszugraben.

Wieviele sind es?
Es sind auf jeden Fall unter zehn.

Waren alle in der gleichen Klasse wie Markus Zangger?
Ja. Mit einer Ausnahme.

Warum haben Sie sexuell mit Ihren Schülern verkehrt?
Ich war der Meinung, dass das möglicherweise etwas bringt. Nicht allen Schülern, aber gewissen.

Sie sagen damit also: Sie haben das zum Wohl der Buben gemacht?
Ganz stimmt das nicht. Jeder Mensch, der mit einem anderen Menschen zärtlich ist, befriedigt dabei auch eigene Bedürfnisse. Wichtig ist nur, dass der andere mehr davon hat, als man selber. So sah ich das damals.

Wie kamen Sie auf die Idee, dass Ihre Schüler das wollten?
Wir haben darüber sehr offen gesprochen. Sachen, die jemand nicht wollte, passierten auch nicht. Was ich damals nicht sah: Die Spiesse waren nicht gleich lang. Ich war schon damals die gewichtigere Person.

Ihre Opfer waren Sonderschüler - die Schwächsten also.
Nein, ich habe mich ein Leben lang für die Schwächsten eingesetzt. Es ging immer darum, dass sie mehr Selbstvertrauen bekommen. Sie konnten sich immer wehren, wenn ihnen zum Beispiel das Rechnen stinkte. Wir haben gesagt, es waren unter zehn Opfer: Das waren alles schwachbegabte Schüler und jeder von denen hat eine dreijährige Berufslehre gemacht. Das muss man auch mal sagen.

Sie konnten sich gegen das Rechnen aber nicht gegen die sexuellen Kontakte mit Ihnen wehren.
Das ist der Punkt, den man heute anders sieht.

Sie haben Pädagogik-Bestseller geschrieben. Wenn Sie es damals richtig fanden, warum haben Sie darüber kein Buch geschrieben?
Es war damals weniger tabuisiert, aber schon tabuisiert. Ich habe mir überlegt, dass ich so viel schreiben müsste, um das alles zu erklären. Ich habe das immer als Randgeschichte angeschaut.

Für Ihr Opfer Markus Zangger ist der Missbrauch keine Randgeschichte.
Im Buch bin ich der grösste Unmensch. Da steht, wie ich Markus plage und quäle, eben so Zeugs. Es ist einfach aus seiner Perspektive geschrieben.

Was ist Ihre Perspektive?
Eine andere dazumal.

Und Ihre heutige Perspektive?
Heute würde ich sagen, es war ein grosser Fehler, dass ich das nicht realisiert habe. Ich ging mit bester Absicht vor.

Sie sagen nicht: Es ist falsch, was ich gemacht habe.
Aus heutiger Sicht schon. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Heute ist das dermassen Pfui, würde man heute so etwas machen und wäre es mit noch so guten Absichten, brächte man einen jungen Menschen in furchtbare Zwiespälte.

Sie haben vor 30 Jahren die Stiftung Märtplatz gegründet. Kam es dort zu Übergriffen?
In der Anfangsphase des Märtplatz waren dort nicht nur Jugendliche. Sondern auch Leute, die generell Mühe hatten, einen Beruf zu finden. Einer war mein Freund. Er war zehn Jahre älter als sein Lehrmeister. Mit dem hatte ich eine Beziehung.

Vorfälle mit Minderjährigen gab es nicht?
Nein.

Haben Sie heute Kontakt zu den jungen Leuten der Stiftung Märtplatz?
Nein, nur noch zu einzelnen Lehrmeistern.

Dem «BLICK» hat ein zweites Opfer seine Geschichte erzählt.
Das war ein Lehrmeister vom Märtplatz. Das war jemand, der mir gefiel, und ich habe ihm Avancen gemacht. Fertig. Das war ein erwachsener Mensch.

Haben Sie diese Woche Kontakt mit den anderen Opfer gesucht?
Nein, weil ich weiss, dass der Markus ziemlich weibelt und versucht, die auf seine Seite zu ziehen. Es geht ja jetzt auch darum, nicht noch mehr Schaden anzurichten.

Haben Sie heute grundsätzlich noch Kontakt zu Opfern?
Ja, zu gewissen sind recht gute Freundschaften entstanden.

Sie trinken Kaffee zusammen.
Ja klar. Natürlich nicht mit allen.

Die sexuellen Kontakte aber haben aufgehört. Warum?
Einer nach dem anderen hat gesagt: Vergessen wir das. Ich habe gesagt: Das ist in Ordnung, lassen wir das. Ich bin denen nicht nachgelaufen und habe gesagt: Komm ins Bettli.

Fürchteten Sie, dass es herauskommt?
Nicht wirklich. Das einzige, was ich mir überlegte, war, dass die Stiftung Märtplatz da hineingezogen werden könnte. Weil das schadet denen, die heute dort arbeiten.

Sie lebten in Angst.
Mir ist so viel passiert in meinem Leben. Oft ist es gar nicht so schlimm, wie man sich das vorgestellt hat, wenn man mittendrin ist. Dann merkt man, dass man es schon aushält.

Bereuen Sie, was Sie getan haben?
Ich muss so sagen: Wenn das Leuten geschadet hat, dann bereue ich das.

Sie gingen seit dem Dienstag nicht mehr ins Dorfcafé.
Ich hatte viel zu tun.

Schämen Sie sich?
Wissen Sie, ich war jahrelang der schlechteste Lehrer von Embrach. Ich bin mir das gewohnt. Wobei diese Vorwürfe sind natürlich happiger, als ein schlechter Lehrer zu sein.

Wie war die Reaktion der Leute aus Ihrem Umfeld?
Ich habe von vielen ehemaligen Schülern sehr viele Unterstützungsmails bekommen, auch Kondolenzmails. Sie schreiben: Es tut mir leid, wie du da in den Medien herumgezogen wirst.

Möchten Sie mit Markus Zangger reden?
Wir hatten in meinen Augen eine gute Zeit miteinander. Wenn er mit mir darüber sprechen will, bin ich sehr gern dazu bereit.

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