Interview mit dem bekanntesten Flüchtling der Schweiz
«Ohne Arbeit werden einige irgendwann verrückt!»

Am 1. Mai möchte der afghanische Flüchtling Hamid Jafari (26) die Schweiz erkunden. Im grossen BLICK-Interview räumt er mit Vorurteilen auf und sagt, warum er den Integrationsvertrag für eine sehr gute Idee hält.
Publiziert: 21.04.2017 um 14:18 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 23:47 Uhr
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Der Flüchtling Hamid Jafari (26) vor seiner Asylunterkunft in Safenwil AG. Er gab BLICK ein ausführliches Interview.
Foto: Ralph Donghi
Ralph Donghi (Interview und Fotos)

Er ist im Moment der bekannteste Flüchtling der Schweiz: Hamid Jafari (26). Der Afghane will ab 1. Mai 2017 mit einem Kumpel (26) die Schweiz bewandern – das Land, die Leute, Werte und Traditionen kennenlernen. Ziel der Wanderschaft: eine bessere Integration. Doch wer steckt hinter dem Menschen Jafari? Wie kam der Afghane in den Aargau? BLICK hat den dreifachen Familienvater in seiner Asylunterkunft in Safenwil AG getroffen. 

BLICK: Herr Jafari, Sie dürfen nun doch mit Ihrem Kumpel durch die Schweiz wandern. Jedoch mit Auflagen.
Hamid Jafari:
Du kannst mir schon Hamid sagen. Ja, das ist eine gute Nachricht. Aber ich verstehe nicht, warum wir nicht ganz frei herumlaufen dürfen.

Weil sich Flüchtlinge in der Schweiz an Regeln halten müssen.
Ja, ich weiss.

Aber?
Es geht für mich nicht auf. Man will uns verbieten, dass wir auf unserer Tour ständig auswärts schlafen. Gleichzeitig lässt man uns nicht arbeiten.

Was meinst du konkret?
Viele von uns sitzen fast nur in den Unterkünften, dürfen nicht arbeiten und warten auf den Bescheid, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen. Ich seit November 2015. Da werden einige irgendwann verrückt.

Du meinst die Flüchtlinge, die nicht eine Familie als Stütze haben wie du?
Ja. Einzelne gehen dann raus, trinken Alkohol und bauen Mist. Das bringt uns alle wieder in ein schlechtes Licht.

Meinst du, wenn diese Leute arbeiten dürften, wären sie brav?
Es gibt immer Ausnahmen. Aber ich denke, wenn man uns Arbeit geben würde, wäre vieles besser.

Es gibt Einheimische, die fänden das nicht gut. Weil sie zum Beispiel selber einen Job suchen.
Das verstehe ich. Aber ich denke, dass es in der Schweiz genug Arbeit gibt. Es geht uns ja nicht um einen grossen Lohn. Sondern, dass es uns nicht langweilig ist. Ich finde, das Gesetz müsste angepasst werden. Alle Flüchtlinge sollten arbeiten gehen dürfen.

Was machst denn du den ganzen Tag?
Ich habe eine Frau und drei Kinder, da gibt es genug zu tun.

Von wie viel Geld musst du leben?
Ich und meine Frau erhalten je zehn Franken am Tag, meine Kinder je fünf Franken.

Reicht das?
Na ja, fürs Baby brauchen wir das meiste Geld. Aber es geht, irgendwie.

Unterkunft, Krankenkasse und Deutschkurs werden bezahlt?
Ja. Und jedes Familienmitglied erhält alle drei Monate 60 Franken für Kleider.

Ihr gebt alle drei Monate 300 Franken für Kleider aus?
Nein. Wir sind froh, wenn wir damit mal etwas mehr Essen einkaufen können als nur Reis und Brot. Oder wir bezahlen den Bus oder den Zug, damit wir auch mal weggehen können. Aber nicht ins Kino oder so, das können wir uns nicht leisten.

Woher hast du denn dein modernes Handy?
Gekauft.

Für wie viel?
Für 350 Franken in einem Laden. Es war ein altes.

Hast du es vom Kleidergeld gekauft?
Ja. Aber ich brauche ja nicht alle drei Monate ein neues Handy (grinst).

Und wer bezahlt die Handyrechnung?
Ich. Es gibt einen Anbieter, den oft Flüchtlinge nutzen. Der kostet zehn Franken im Monat. Der Betrag ist aber schnell weg. Ich telefoniere vor allem mit meiner Mutter und meiner Schwester im Heimatland. Wo mein Vater ist, weiss ich nicht.

Wollten deine Mutter und deine Schwester nicht mitkommen?
Nein, die Flucht wäre für sie zu hart gewesen.

Aber du hast ja auch deine Frau und deine beiden Buben mitgenommen?
Ja. Ich wollte meiner Familie ein besseres Leben bieten. In der Schweiz. Dafür haben wir unser Leben riskiert.

In einem Schlepperboot?
Ja, von der Türkei bis nach Griechenland. Das war schlimm. Im Plastikboot hätten 15 Menschen Platz gehabt. Es sassen aber rund 100 drin!

Wart ihr in Lebensgefahr?
Ja. Und einmal setzte der Motor aus. Da fingen alle an zu weinen. Zum Glück konnte er wieder gestartet werden.

Was hat die Flucht gekostet? 
Die ganze Flucht ein paar Tausend Franken, die ich als Häuserbauer gespart hatte. Auf dem Boot war dann plötzlich noch unser Rucksack weg – mit allen Habseligkeiten.

Ihr hattet nichts mehr, als ihr in die Schweiz kamt?
Nur noch das, was wir anhatten. Wir waren so froh, endlich zu essen und ein Bett zu haben. Man kann sich das gar nicht vorstellen.

Du lebst mit deiner Familie in einem alten Bauernhaus im aargauischen Safenwil. Dein älterer Sohn geht in den Kindergarten. Gefällt es euch hier?
Sehr! Wir möchten für immer in der Schweiz bleiben.

Du hast auch den Integrationsvertrag von BLICK unterzeichnet.
Genau, das ist eine gute Sache.

Widerspricht er nicht deiner Religion?
Nein. Ich habe nicht mal den Koran gelesen. Wir leben traditionell. Wir und unsere Gäste müssen bei uns die Schuhe ausziehen. Zudem trägt meine Frau ein Kopftuch. Dies tut sie freiwillig, denn im Heimatland musste sie voll verschleiert sein. Nicht wegen mir, sondern weil es zu gefährlich für sie gewesen wäre. Und: Wir beten drei Mal am Tag.

Deine Kinder auch?
Nein, sie müssen erst beten, wenn sie 15 sind.

Sie müssen?
Nein. Aber sie kennen nichts anderes, weil ihre Eltern ja auch beten.

Zu wem betet ihr?
Zu Gott, wie viele andere Menschen auch.

Hattest du nie ein Angebot, dem Islamischen Staat beizutreten?
Nein, zum Glück nicht. Die suchen ja nicht Familienväter.

Was tust du, wenn du mit deiner Familie die Schweiz vielleicht verlassen musst?
Wir würden uns auch in einem anderen Land ans Gesetz halten.

Du findest, es gibt keinen Grund, dass du mit deiner Familie nicht hier bleiben darfst?
Nein. Im Gegenteil: Wir und die Menschen in der Schweiz können nur voneinander lernen.

Darum gehst du am 1. Mai auf grosse Wandertour.
Genau! Und ich hoffe, dass sich nach diesem Gespräch alle ein wenig Gedanken machen. Darüber, was sie getan hätten, wenn sie in einem armen Land mit Krieg aufgewachsen wären. Denn am Ende möchten wir doch alle nur das Gleiche: in Frieden leben.

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