Migrantenkirchen boomen in der Schweiz
Sie sind ein Segen für das Christentum

Den Schweizer Landeskirchen laufen die Schäfchen davon. Jetzt wollen sie von christlichen Migranten lernen. Denn deren Gemeinden erleben einen enormen Zulauf.
Publiziert: 16.04.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 23:10 Uhr
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Die Basler Elisabethen-Kirche steht für Gläubige aller Länder offen.
Foto: Stefan Bohrer
Roland Gamp und Benno Tuchschmid

Christen aller Konfessionen feiern heute Ostern. Die Gläubigen der offiziellen Schweizer Landeskirchen natürlich. Aber auch eritreische und äthiopische Pfingstkirchler aus Siders VS, Katholiken der Vietnamesen-Mission in Obergösgen SO oder die albanische Gemeinde «Mutter Teresa» in Aarau.

Solche Zuwanderer-Kirchen erleben einen Boom. Das zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI). 635 christliche Migrationsgemeinden sind laut diesem in der Schweiz ansässig – 370 von ihnen nahmen an der Untersuchung teil. Diese zeigt: Ab den 1950ern gab es pro Jahrzehnt rund 35 Neugründungen. In den 90ern stieg die Zahl auf 56. Seit dem Jahr 2000 kamen dann 112 Migrationsgemeinden hinzu.

Der Trend widerlegt den Irrglauben, dass vor allem Muslime in die Schweiz einwandern. Laut Bundesamt für Statistik sind 38 Prozent der ausländischen Wohnbevölkerung römisch-katholisch. Islamisch sind 14 Prozent. Eine Tatsache, die laut den Studienautoren «in öffentlichen Diskussionen und Debatten oft vergessen wird».

Lebendigkeit und Wachstumsdynamik

So sind die christlichen Migrationsgemeinden im Stillen auf eine bedeutsame Grösse angewachsen. Laut Studie zählen sie heute 616'255 Mitglieder. Die tatsächliche Zahl dürfte noch viel höher liegen, da sich nur die Hälfte aller Migrationskirchen an der Umfrage beteiligte. Und sie wird wohl weiter steigen: Fast jede zweite Gemeinde gibt an, dass die Zahl der Gottesdienstbesucher in den letzten Jahren zunahm.

Die Autoren folgern, «dass die christlichen Migrationsgemeinden in der Schweiz mehrheitlich grosse Stabilität und Lebendigkeit und sogar eine Wachstumsdynamik aufweisen.» Ganz anders die Schweizer Landeskirchen: In 15 Jahren sank die Mitgliederzahl der Evangelisch-Reformierten von 2.4 auf 1.7 Millionen, jene der Römisch-Katholischen von drei auf 2.5 Millionen. «Wir sind mit einem ständigen Mitgliederschwund konfrontiert», sagt Sabine Brändlin (43), Ratsmitglied des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK).

Genau hier könnten die Migrationsgemeinden wichtige Impulse geben. «Wir können von ihnen lernen, was es heisst, den Glauben offen und mit Freude zu leben. Und selbstverständlich können die Migrationsgemeinden auch viel von uns Reformierten lernen.»

Kirche braucht die Migration

Man arbeite schon jetzt mit ­Migrationsgemeinden zusammen, stelle etwa gratis Räume zur Verfügung. «Diesen Austausch wollen wir in Zukunft noch vertiefen.» 2018 wird im Kirchenbund über die Revision der Verfassung entschieden. «Neu könnten auch Migrationskirchen die Möglichkeit erhalten, assoziiertes Mitglied des Kirchenbundes zu werden», so Brändlin. «Das Dach unserer Kirche könnte bei einem ‹Ja› bedeutend grösser werden.» Es gehe nicht darum, die Mitgliederzahlen aufzubessern, «sondern da­rum, dass wir uns gemeinsam unterstützen und zusammen Kirche sind».

Nicht nur die Reformierten ­haben das Potenzial erkannt. «Die Migrationsgemeinden bereichern unser kirchliches Leben durch die verschiedenen Kulturen», sagt Urban Federer (48), Abt des Klosters Einsiedeln SZ und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Die Kirche habe sich schon immer über Zuwanderer aufgebaut. «Es braucht also die Migration, auch in Zukunft.» Die ­Bischofskonferenz sei aktuell daran, die eigene Dienststelle «Migratio» neu aufzustellen. «Um noch besser auf Fragen und Bedürfnisse von Migranten eingehen zu können.»

«Man muss genau hinschauen»

Die zugewanderten Christen ihrerseits verorten ebenfalls Verbesserungspotenzial – spiritueller Art. Rund drei Viertel der Befragten geben laut SPI-Studie an, dass sich der christliche Glaube in der Schweiz in der Krise befinde. Sehr hohe Zustimmung erhielt auch die Aussage: Die Schweiz muss neu evangelisiert werden.

«Nur weil ein Migrant einen protestantischen Hintergrund hat, heisst das nicht, dass er die gleichen Positionen wie die reformierte Landeskirche vertritt», sagt Andreas Heuser (56), Professor für Aussereuropäisches Christentum an der Universität Basel.

Die Landeskirchen sind sich dessen bewusst. «Man muss natürlich genau hinschauen. Ein wichtiges Kriterium ist zum Beispiel, dass eine Kirche demokratisch verfasst ist», sagt Sabine Brändlin. «Früher kamen vor allem Evangelische aus Frankreich und Deutschland in die Schweiz. Heute sind es Gläubige aus uns viel fremderen Kulturen.» Dies mache die Zusammenarbeit mit den Migranten anspruchsvoller. «Trotzdem dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass alle Christinnen und Christen der gemeinsame Glaube an Christus verbindet.»

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