Es ist ein schlimmes Unglück – das leicht in einer Katastrophe hätte enden können. Gestern Mittag wurde der RegioExpress der Rhätischen Bahn (RhB) zwischen Tiefencastel GR und Thusis von einem Erdrutsch erfasst. Die drei Waggons hinter der Lok entgleisen. Ein Waggon stürzt einen steilen Abhang hinunter. Die Menschen darin haben riesiges Glück: Nach zehn Metern fangen ihn Bäume ab. Der zweite Waggon bleibt halb über dem Abgrund schwebend hängen.
Im zweiten Waggon hinter der Lok sitzt der Luzerner Max Lienert (70). Er ist auf der Heimfahrt von seinen Ferien. «Es gab plötzlich eine Vollbremsung und einen Ruck», berichtet er, «ich dachte, wir seien in Baumstämme gefahren oder in einen Steinhaufen.»
Die 140 Passagiere im Zug von St. Moritz nach Chur wissen nicht, dass die Schienen auf einer Länge von 15 Metern verschüttet waren. Bis zu drei Meter hoch türmen sich die Erdmassen, als der Zug hineinfährt.
Max Lienert erzählt: «Es hat gedonnert, gab ein Riesengetöse. Dann sah ich, dass wir entgleist waren und halb über dem Abgrund hingen. Ich dachte, hoffentlich fällt unser Waggon nicht auch runter.» Es gab kein Geschrei. Die Passagiere waren ruhig – und in Schockzustand, dachten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen.
Hubert (72) und Myrtha (68) Wälti aus Langenthal BE sitzen im gleichen Waggon. «Es hat gerumpelt, dann ist unser holländischer Freund auf mich gefallen», sagt Myrtha Wälti. Sie erinnert sich, dass jemand versuchte, die Scheibe einzuschlagen. Die Passagiere wurden aufgefordert, sich in die hinteren Wagen zu begeben. Richard Peter (76) ist mit seiner Frau und seiner Enkelin unterwegs. Sie sehen, dass im abgestürzten Waggon Menschen sind. «Etwa fünf bis zehn Passagiere», schätzt Peter. Er befolgt wie alle anderen die Anweisung auszusteigen. Manche stolpern unter Schock über die Geleise.
Retter in der Not
Etwa zur gleichen Zeit machen sich die Retter auf den Weg. Rund 180 Einsatzkräfte rücken an: Feuerwehr, Rega und Sanität. Bevor sie am Unfallort eintreffen, handelt Francis Meyer (50). Der Prediger und ausgebildete Hufschmied aus dem Elsass (F) war im Engadin auf Arbeitssuche. Ohne Erfolg. Meyer sitzt im dritten Waggon. «Es war friedlich», sagt er, «ich trank ein Glas Wein und ass ein Sandwich. Da gab es einen Knall, und der Zug stand still.» Er blickt aus dem Fenster und sieht den vordersten Waggon am Abhang. Mehrere Passagiere wurden aus dem Zug geschleudert.
Der Waggon droht weiter abzurutschen. Francis Meyer ist ein gläubiger Mann – und ein mutiger. Er steigt aus dem Zug, klettert den Abhang hinunter. «Ich hörte eine Frau um Hilfe schreien – es hat wehgetan, das zu hören. Ich musste einfach helfen.» Die Frau ist von Steinen und Geröll bedeckt, droht am Schlamm zu ersticken.» Meyer befreit sie und schleppt sie in Sicherheit. Er weiss, dass der Bahnwagen über ihnen sie jederzeit in die Tiefe mitreissen kann. Trotzdem hilft Meyer weiter.
Mit seinem mutigen Einsatz rettet er wahrscheinlich Menschenleben. Meyer erzählt: «Ein Mann hatte von einer geborstenen Fensterscheibe ein zerschnittenes Gesicht. Ich habe ihn gefragt, ob sonst alles in Ordnung sei. Eine weitere Frau hatte wahrscheinlich ein gebrochenes Bein. Sie war ebenfalls hinausgeschleudert worden.» Meyer holt jeden Einzelnen aus der Gefahrenzone, weg vom Hang. Auch eine Frau mit zwei Kindern bringt er in Sicherheit.
Unterstützung naht
Eine Stunde ist Meyer auf sich allein gestellt. Dann die Erlösung: Die ersten Retter treffen ein. Mit Helikoptern bergen sie Passagiere und Verletzte aus dem vordersten Waggon. RhB-Mitarbeiter bringen die geschockten und verängstigten Passagiere durch einen Tunnel zu Fuss in Sicherheit. Postautos fahren sie nach Tiefencastel. Dort werden sie betreut und verpflegt. Anschliessend bringen Busse sie nach Chur.
Dort am Bahnhof steht auch Francis Meyer in vom Schlamm verdreckten Jeans. Mitreisende bedanken sich überschwänglich beim dreifachen Familienvater. Er sagt bescheiden: «Ich habe nicht überlegt, ich habe einfach geholfen. Gott gab mir Kraft.»
Dann kommt die erlösende Meldung: Es gab keine Todesopfer. Aber fünf Schwer- und sechs Leichtverletzte – acht Schweizer, zwei Japaner, ein Australier.
«Es ist ein Wunder, dass nicht mehr passiert ist und alle überlebt haben», sagt Meyer. «Und es ist ein Wunder, dass Baumstämme den Waggon stoppten und die Rega dort oben einen Landeplatz fand.»