Gimma und Fankhauser sind nicht die einzigen Missbrauchs-Opfer
Die Schande der Schweizer Kirche

Mit ihren Beichten haben Rapper Gimma und Bluesmusiker Philipp Fankhauser schockiert. Beide wurden im katholischen Internat von Geistlichen missbraucht – und sie sind bei Weitem nicht die einzigen.
Publiziert: 10.08.2015 um 16:26 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2018 um 12:10 Uhr
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Bluesmusiker Philipp Fankhauser dankt Gimma und appelliert an Bischof Huonder.
Foto: SRF

Gimmas Plädoyer gegen Schwulenhass und sexuellen Missbrauch in der Kirche hat hohe Wellen geschlagen. Nach den Äusserungen des Churer Bischofs Vitus Huonder, der die Homosexualität während einer Rede zum Thema Familie als «Gräueltat» abstempelte, holte der Rapper zum Gegenschlag aus und setzte wirkliche Gräueltaten auf die Agenda - der Kindsmissbrauch in der katholischen Kirche.

Für seinen offenen Brief an den Churer Bischof – «Lieber Herr Huonder, ich weiss ja nicht, ob Sie das Interessiert, aber ich wurde in meinem Leben von gut und gerne einem halben Dutzend Gläubigen und Würdenträgern sexuell genötigt» – hat Gimma jüngst gar von prominenter Seite Zuspruch erhalten.

«Danke Gimma, danke vielmals», schrieb etwa Bluesmusiker Philipp Fankhauser auf Facebook und gewährte einen nicht minder schockierenden Einblick in den Alltag katholischer Kloster: «Ich war von 1975 (mit 11) bis 1976 im katholischen Collegio Don Bosco in Maroggia bei Lugano», erzählt Fankhauser. «Der damalige Direktor und viele weitere Priester haben uns alle missbraucht.»

145 gemeldete Missbrauchsfälle im Jahr 2010

Gimma und Fankhauser gehören sicherlich zu den prominentesten Opfern von sexuellen Übergriffen durch Geistliche. Sie sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Alleine im Rekordjahr 2010 wurden der katholischen Kirche 145 Missbrauchsfälle gemeldet. Im letzten Jahr gingen noch immer zwölf Meldungen von Missbrauchsopfern ein.

Fast alle gehen laut der Schweizerischen Bischofskonferenz (SBK) auf die Jahre 1950 bis 2000 zurück. Ein Fall datiert aus dem Jahr 2013. Von den zwölf gemeldeten Opfern waren zum Zeitpunkt der Übergriffe acht Kinder und drei erwachsene Frauen. Ein Opfer war ein Jugendlicher. Ferner wurden zehn Täter gemeldet.

Täter bleiben oft ungesühnt

In den vergangenen Jahren sind immer wieder erschreckende Details über Missbrauchsfälle von Kirchenleuten ans Licht gekommen. Oftmals blieben die Täter dabei ungesühnt, obwohl man von ihren Vergehen wusste.

Einer der prominentesten Fälle: Im Jahr 2010 gestand der Abt des Klosters Einsiedeln, Martin Werlen, dass sich dort in den 90er-Jahren mehrere sexuelle Übergriffe auf die Schüler ereignet haben. Fünf Mitglieder der Gemeinschaft hatten sich laut Werlen Verfehlungen zu schulden kommen lassen (Blick.ch berichtete).

In einem Fall wurde ein Pater versetzt, nachdem er einem Klosterschüler während einer Busfahrt zwischen die Beine gegriffen haben soll. «Schweiz aktuell» konfrontierte den Abt damals mit konkreten Fällen. So habe sich ein Mitbruder einem Schüler unsittlich genähert, weiss Werlen. Ein weiterer Pater soll Zöglinge zu sich aufs Zimmer bestellt haben. Mit 14 Jahren sollten sie ihm noch immer auf den Schoss sitzen.

Pädo-Pfarrer wissentlich angestellt

Brisant: Auch nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle an der Stiftschule Einsiedeln blieben drei der fünf Brüder, welche sexuelle Übergriffe verübt hatten, weiterhin angestellt. Man wolle ihnen eine zweite Chance geben, sagte Werlen damals. Auf eine Anzeige habe man aus Gründen des Opferschutzes verzichtet.

Einsiedeln ist kein Einzelfall. So stellte das Bistum Basel im Jahr 1987 einen Pfarrer ein, obwohl man genau Bescheid wusste, dass sich dieser bei seinen früheren Einsätzen im Ausland wiederholt an Knaben vergriffen hatte. Es handelt sich um Gregor Müller, den Grüsel-Pfarrer von Schübelbach SZ. Erst 2010, als alles aufflog, reagierte die Kirche und entliess Müller.

Wie konnte man nur einen Pädophilen als Pfarrer einstellen? «Es gibt keine Entschuldigung dafür. Aus heutiger Sicht war das eine unvertretbare Fehleinschätzung», rechtfertigte sich der Kommunikationsbeauftragte des Bistums Basel, Giuseppe Gracia. «Leider passt sie in die damalige Zeit: Nicht nur in der katholischen Kirche, sondern leider auch in vielen weltlichen Einrichtungen konnten sich Täter im Amt halten, wenn sie ein gutes Beziehungsnetz hatten.»

Ein Klima der Lieblosigkeit

Für landesweite Empörung sorgte auch ein von Historikern im Jahr 2014 publizierter Bericht, der die Zustände im ehemaligen Kinderheim im Kloster Fischingen beschreibt – 20 Betroffene hatten sich nach einem Aufruf des Klosters gemeldet.

Die Historiker zeigten im Bericht auf, dass es im Kinderheim zahlreiche sexuelle Übergriffe gegeben hatte. Zudem soll allgemein ein Klima der Lieblosigkeit geherrscht haben. So mussten die Kinder körperliche Gewalt über sich ergehen lassen, die weit über Ohrfeigen hinausging. Auch Demütigungen wie das Kahlscheren des Kopfes waren gang und gäbe. Zu Hilfe kam den Kindern niemand. Die Vormundschaften bestanden oft nur auf Papier.

Die Vertreter des Vereins Kloster Fischingen und der Klöster St. Engelberg und Fischingen entschuldigten sich in der Folge für das Unrecht, das man den Kindern und Jugendlichen angetan hatte. Gemeinsam zahlten die Institutionen 250'000 Franken an den Soforthilfefonds für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Von den angeschuldigten Erziehern lebt heute noch ein Pater. Gegen ihn hat ein ehemaliger Zögling Anzeige erstattet. Das Bundesgericht wies die Klage jedoch ab, weil die Tat verjährt sei.

«Katholische Kirchen schützen Täter»

Von Erniedrigung und inquisitorischer Strenge berichtet auch der Basler Schriftsteller Claude Cueni in seinem autobiografischen Roman «Script Avenue». Er war in den Jahren 1973 und 1974 während 14 Monaten Internatsschüler im Kollegium Schwyz, das 2001 geschlossen wurde. Ehemalige Mitschüler seien von einem Priester betatscht und gestreichelt worden, schreibt Cueni in seinem Buch.

In einer Stellungnahme im Jahr 2014 betonte Cueni allerdings, dass er kein Interesse daran habe, die Vorkommnisse aufzuarbeiten. Er halte es für Zeitverschwendung, da die Verantwortlichen kaum mehr zur Rechenschaft gezogen werden können.

Zudem glaube er, dass die katholische Kirche die Täter schützen würde. «Falls die Kirche tatsächlich etwas gegen sexuelle Belästigungen durch katholische Priester unternehmen möchte, müsste sie sich prioritär um die Gegenwart kümmern, damit die heutige Jugend geschützt wird», sagte Cueni. (gr)

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