Kein Monat ist seit der Axt-Attacke in einer Regionalbahn im bayrischen Würzburg vergangen. Nun wiederholt sich eine vergleichbare Gräueltat im St. Galler Rheintal – mit einem Schweizer als mutmasslichem Täter: Im Zug der Südostbahn geht Simon S.* (†27) am Samstag mit einem Messer auf Passagiere los. Zuvor schüttet er eine brennbare Flüssigkeit aus und zündet sie an. Eine Frau sowie der Täter sterben im Spital, sechs Personen sind verletzt. Eine davon schwebt noch immer in Lebensgefahr.
Herr Knecht, wie lässt sich eine so grausame Tat erklären? Ist die Hemmschwelle für Gewalt gesunken?
Thomas Knecht: Es ist tatsächlich zu beobachten, dass solche Fälle in jüngster Zeit zugenommen haben. Amokläufe können sich, wie wir in den USA immer wieder sehen, zu regelrechten Epidemien entwickeln. Man spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten «Columbine-Effekt»: Amokläufer inspirieren weitere Amokläufer und so weiter. Er ist vergleichbar mit dem «Werther-Effekt» bei Selbstmördern. Durch die mediale Verbreitung sprang der Funke von den USA via Deutschland nun schliesslich zu uns über.
Liess sich Simon S. also vom Axt-Attentäter im bayrischen Regionalzug inspirieren?
Das ist nicht auszuschliessen. Kommt es zu einer Häufung von Amokläufen, entwickeln sich bestimmte Muster. Das kann den Tatort und die Tatwaffe betreffen oder auch, wie der Täter vorgeht. In den Fällen von Salez und Würzburg dachten sich die Täter wohl: Ein schnell fahrender Zug, aus dem niemand raus kommt, eignet sich für ein Blutbad genauso gut wie ein geschlossenes Klassenzimmer. Häufig ist es so, dass die Täter jahrelang Pläne schmieden und dann von einem äusseren Ereignis dazu angestachelt werden.
Unter den Opfern sind auffällig viele Frauen. Lässt das einen Schluss auf das Motiv zu?
Das würde ich nicht überbewerten, es kann sich hierbei auch um einen Zufall handeln. Je nach Tageszeit ist es halt wahrscheinlicher, dass eher Frauen und Kinder unterwegs sind. Es ist aber schon so, dass aufgestaute Menschenverachtung in solchen Fällen immer eine Rolle spielt, ein Gefühl von «ich allein gegen die anderen». Im Fachjargon spricht man eigentlich nicht von Amokläufen, sondern von autogenen Massakern, bei denen sich ein Täter wortwörtlich in einen Blutrausch hineinsteigert.
Steckt ein solches Gewaltpotenzial in jedem?
In Friedenszeiten ist die Tötungsschwelle bei allen Menschen relativ hoch. Es braucht immer eine bestimmte psychische Konstellation, dass jemand keinen anderen Ausweg als die Gewalt mehr sieht und dann auch noch zur Tat schreitet. Bei Amokläufern ist aber doch ein gewisses Muster zu erkennen: Es sind meistens junge Männer, die sich von der Gesellschaft zurückgewiesen fühlen. Sie sind überzeugt davon, etwas besseres zu verdienen, fühlen sich unter Wert verkauft.
Der Amoklauf als Racheakt?
Gewissermassen. Irgendwann geben die Jungen schliesslich auf und kapseln sich ab. Dort verstärkt sich das Gefühl der Isoliertheit natürlich weiter. Der Serotonin-Spiegel geht in den Keller, man wird reizbarer, aggressiver. Es entwickeln sich Ressentiments, die Aussenwelt wird als feindlich wahrgenommen. Letzten Endes beginnt man, sich Szenarien auszumalen, wie man sich an der Gesellschaft am besten «revanchieren» könnte.
Gibt es eine Möglichkeit, eine solche Tat vorauszusehen? Wann muss man alarmiert sein?
Das ist ein äusserst heikler Moment. Man kann ja nicht jeden Sonderling als potenziellen Amokläufer abstempeln. Aber es gibt bestimmte Vorzeichen, etwa wenn sich jemand in jungem Alter stark isoliert, obwohl er ja eigentlich den Weg in die Welt hinaus suchen sollte. Wenn ein derartiger Rückzug dann noch gepaart mit abrupt veränderten Interessen auftritt, kann das als Warnzeichen gedeutet werden. Häufig ist es auch so, dass Amokläufer ihre Tat in ihrem Umfeld oder im Internet mit subtilen Hinweisen ankündigen. Es sind versteckte letzte Hilfeschreie, die gehört werden wollen.