Um 21.12 Uhr am Montagabend bebte der Boden vom Kanton Glarus über Bern in den Aargau, nach Zürich und der Bodensee-Region. Das Epizentrum lag gemäss Messungen vier Kilometer westlich von Linthal GL in einer Tiefe von fünf Kilometern.
BLICK-Leser berichteten von wackelnden Bürotischen und herunterfallenden Computern. «Mich hats fast vom Sofa geworfen», schrieb ein BLICK-Leserreporter aus dem Kanton Glarus.
Es dürfte eines der stärksten Schweizer Beben der letzten Jahre gewesen sein. Zwar kommen Erschütterungen in der Schweiz fast jährlich vor. Das stärkste Erdbeben 2016 erreichte aber «nur» 4,1. Damals hiess es beim Erdbebendienst, dass ein Beben dieser Stärke in der Schweiz in der Regel alle ein bis drei Jahre vorkomme.
Doch: Die Gefahr eines Mega-Bebens ist in der Schweiz allgegenwärtig. Experten warnten schon vor einem Jahr vor dem «Big One». Als im Sommer 2016 die Erde in Mittelitalien mit einer Stärke von 6,0 erschüttert wird, 267 Menschen ums Leben kommen und hunderte Menschen ihr Zuhause verlieren, sagt ETH-Experte Sven Heunert (40) von der Koordinationsstelle für Erdbebenvorsorge des Bundesamtes für Umwelt (Bafu) zu BLICK: «Ein Erdbeben wie jetzt in Italien ist in der Schweiz möglich.» Und warnt: «Von keiner anderen Naturgewalt geht hierzulande ein grösseres Risiko aus als von Erdbeben.»
Kommen zwei oder drei Grosse hintereinander?
Das Gefährlichste daran sei, dass Beben in der Schweiz jederzeit eintreffen könnten. «Es kann in drei Minuten oder in vierzig Jahren passieren», erklärte Seismologe Florian Haslinger (50) vom Schweizerischen Erdbebendienst an der ETH. Alle 50 bis 100 Jahre komme es in der Schweiz zu einem Beben mit Stärke 6 oder mehr, letztmals 1946 in Sierre VS.
«Es ist aber auch möglich, dass zwei oder drei grosse Beben kurz nacheinander kommen.» In den letzten 500 Jahren gab es alle 80 bis 120 Jahre ein grösseres Beben. Das Unheimliche, so Haslinger: «Es ist unmöglich, den Zeitpunkt und die Wucht vorauszusagen.»
Tatsächlich ist die Gefahr aktuell noch nicht vorbei. Wie der Erdbebendienst schreibt, seien Beben mit einer «ähnlichen oder gar grösser Magnitude zwar unwahrscheinlich, aber nicht auszuschliessen.»
Besonders gefährdet sind in der Schweiz die Stadt Basel und das Wallis, aber nicht nur. «Erdbeben können überall in der Schweiz auftreten», so Sven Heunert vom Bafu. «Es gibt kein Gebiet, wo die Erdbebengefährdung übersehen werden darf.»
«Mehrere Tausend Tote»
Vorbereitet ist das Land nicht. «In der Schweiz ist für ca. 90 Prozent der Gebäude nicht bekannt, ob sie erdbebengerecht gebaut worden sind», so der Erdbebendienst. Wiederholt sich die Basler Katastrophe von 1356, mit einer Magnitude von ungefähr 6,6 historisch der stärkste dokumentierte Erdstoss der Schweiz, «wäre die Basler Infrastruktur stark betroffen», sagt Haslinger. «Wir rechnen schlimmstenfalls mit mehreren Tausend Toten, zudem würden wir einen grossen Teil der Gebäudesubstanz verlieren.» Die Folgen: «Hunderttausende Obdachlose, die für längere Zeit in Zelten untergebracht werden müssen.»
Die Katastrophen-Szenarien reichen von «einigen Toten» (bei Stärke 5,5) über «mehrere Dutzend Tote» (Stärke 6) bis zu «einige Tausend Tote» (Stärke 7).
Versichert ist das nicht. Der Kanton Zürich hat eine Erdbebenversicherung, die Schäden bis zu einer Milliarde Franken deckt. 17 weitere Kantone haben zusammen zwei Milliarden in einem Pool. Vor acht Jahren versuchte der damalige Bundesrat Moritz Leuenberger (69), eine nationale Erdbebenversicherung einzuführen. Erfolgreich wehrten sich die Hauseigentümer.
Keine Hirngespinste
Nicht nur Häuser sind gefährdet. «Das Stromnetz ist in der Schweiz sehr verletzbar», so Heunert. «Schaltet ein Erdbeben zwei wichtige Unterwerke aus, besteht die grosse Gefahr eines schweizweiten Blackouts.» Dann fliesst kein Strom mehr. Züge und Fabriken stünden still, das Licht ginge aus, Bankautomaten gäben kein Geld mehr, Spitäler wären auf Notstrom angewiesen.
Hirngespinste sind das nicht, sagt Heunert. Nur: «Das Bewusstsein für das Erdbebenrisiko ist in der Schweiz gering.» Viele glaubten, hiesige Bauten seien sicher. Bei der Ausbildung von Architekten werde «die Thematik Erdbeben nicht vertieft». Zudem fehlten verbindliche Vorgaben der kantonalen Baubehörden und Kontrollen zur Qualitätssicherung.
(med/hs7/meg)
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