Häuser im Umkreis von 800 Kilometern erzitterten, als am 10. April 1815 der Vulkan Tambora auf der indonesischen Insel ausbrach. Er spuckte Asche über 40 Kilometer in den Himmel – der Auslöser eines globalen Klimawandels mit verheerenden Folgen.
Aus den freigesetzten Gasen bildeten sich Partikel, die – verteilt über die gesamte Erdatmosphänre – die Sonneneinstrahlung auf die Erde reduzierten. Die Temperaturen sanken im kommenden Jahr um mehrere Grad Celsius. 1816 ging als «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte ein. Auch in der Schweiz.
Hierzulande regnete es überdurschnittlich häufig, selbst im Hochsommer fiel Schnee. Über 2000 Metern blieb es weiss und als die Temperaturen 1817 schliesslich wieder stiegen und die Schneemassen schmolzen, kam es zu Überschwemmungen. Die aussergewöhnlichen Wetterbedingungen hatten schwere Konsequenzen für die Bevölkerung.
Daniel Krämer (38), Historiker an der Uni Bern, hat mehrere Jahre zum Thema geforscht und seine Dissertation der durch den Vulkanausbruch ausgelösten Hungerkrise gewidmet. Heute erscheint das Ergebnis seiner Forschungsarbeit in Buchform. Im Interview mit Blick.ch berichtet er von dem Elend, in das die Schweiz vor 200 Jahren gestürzt wurde.
Wissenschaftler gehen davon aus, dass kein Land stärker unter den Folgen des Ausbruchs des Tambora litt als die Schweiz. Weshalb?
Daniel Krämer: Der Schweiz wurde zum Verhängnis, dass sie im Vergleich zu anderen Regionen in Europa schon relativ stark industrialisiert war. In der Ostschweiz hat man von der Textilproduktion gelebt. Die Ware wurde nach Süddeutschland exportiert, im Gegenzug importierte man Getreide. 1817 versiegte allerdings der Import, es kam zu einer sehr grossen Preissteigerung. In der Westschweiz verdreifachten sich die Preise, im Osten stiegen sie gar um das sechsfache. Die Menschen konnten sich Nahrungsmittel nicht mehr leisten.
Eine existentielle Bedrohung in einer sowieso schon schwierigen Zeit.
Genau. In der Textilindustrie fand ein Strukturwandel statt, in England wurden die Webstühle mechanisiert. In der Schweiz hinkte man hinterher, sehr viele Menschen verloren die Arbeitsstelle, weil die Waren aus dem Ausland günstiger waren. Ausserdem war man von den Napoleanischen Kriegen gebeutelt. In einzelnen Gemeinden in Appenzell galten mehr als 50 Prozent der Bevölkerung als sehr arm.
Wie sicherten die Menschen dort ihr Überleben?
Den Menschen blieb nichts anderes übrig, als von der gewohnten Ernährung abzuweichen. In der Ostschweiz mussten die Hungernden teilweise Aas oder Gras essen. Wie Schafe hätten sie auf der Weise gegrast, heisst es in einem Bericht. Um zu überleben, pfändeten sie ihren Besitz. Es gibt Aufzeichnungen, denen zufolge Familien in ihren Hütten nicht mehr mal Betten stehen hatten. Sie besassen nur noch das, was sie an ihren Körpern trugen. Zudem stieg die Kleinkriminalität. In einigen Kantonen wurden Diebe zur Abschreckung hingerichtet.
Berichte aus jener Zeit dokumentieren die Armut. «Wie aus Gräbern hervorgescharrt» hätten die Menschen ausgesehen, schreibt Zeitzeuge Peter Scheitlin aus St. Gallen nach einem Besuch einer Familie in Glarus. «Am elendsten der ausgemagerte Vater des Kindes, dessen hohle Augen und eingefallene Backen und Auszehrungsbusten die Nähe des Todes verkündigten, oder den Tod selbst sichtbar machten».
Dabei hätten die Männer zu jener Zeit noch am meisten zu essen gehabt. Rund die Hälfte der einer Familie zur Verfügung stehenden Nahrung hätte der Familienvater bekommen, sagt Krämer. Einen Viertel die Frau, den Rest mussten die Kinder unter sich aufteilen. Es galt das Prinzip: Wer am meisten arbeitet und somit das Geld nach Hause bringt, kriegt auch am meisten zu essen. Zum Erstaunen der Forscher waren es aber die Frauen, die die Krise am besten überstanden. Eine Erklärung dafür hat Krämer nicht.
Wie erklärten sich die Menschen damals die Krise?
Es gab verschiedene Theorien. Einige glaubten, Sonnenflecken könnten die Ursache sein. Dieser Ansatz wurde dann aber wieder verworfen, weil diese bereits vorher auftraten – ohne solch drastischen Konsequenzen. Auch zogen einige in Betracht, Blitzableiter könnten die elektrischen Ströme in der Erde verändern und das Klima beeinflussen. Andere machten grossflächige Abholzungen für die Klimaveränderungen verantwortlich. Zudem gab es natürlich auch religiöse Deutungsmuster: Gott bestraft die Menschen, weil sie sündigen. Dieser Erklärungsansatz war immer noch vorhanden, trotz Aufklärung.
Mit welchen Konsequenzen?
In einigen Kantonen wie Nidwalden wurde ein Tanzverbot ausgesprochen, in Freiburg wurden auch Theatervorstellungen gestrichen. Einerseits hat man diese Anlässe aus moralischen Überlegungen untersagt. Andererseits sollten die Menschen nicht unnötig Geld ausgeben – und man wollte ein Zeichen setzen.
Wann wurde schliesslich der Zusammenhang zwischen der Hungersnot und dem Vulkanausbruch entdeckt?
Das war erst rund 100 Jahre später. Im Zusammenhang mit einem anderen Vulkanausbruch hat man wieder begonnen, Vulkane als mögliche Ursachen für Klimaanomalien zu betrachten. Dabei stellte man fest, dass in der Folge der Eruption die Temperatur rund um den Globus gesunken ist. Der US-amerikanische Physiker William Jackson Humphrey hat schliesslich 1913 die Entdeckung gemacht.
Zahlreiche Forscher wie Sie haben sich seither mit dem Vulkanausbruch und seinen meteorologischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen befasst. Was denken Sie: Welche Konsequenzen hätte ein Vulkanausbruch diesen Ausmasses heute?
Der Ausbruch würde sicherlich wieder zu einer Abkühlung des Klimas führen. Auch würde wohl der globale Handel beeinflusst. Damit könnte man heute allerdings relativ gut umgehen, schliesslich hätte man nun im Wissen um die physikalischen Vorgänge eine Vorlaufzeit von mehreren Monaten. Die Vorräte könnten aufgestockt werden und die Landwirtschaft könnte sich darauf einstellen. Ausserdem ist die Kaufkraft in der Schweiz relativ hoch. Viele Menschen in Entwicklungsländern würden aber sehr wahrscheinlich in die Armut abgleiten. Und für die Bevölkerung nahe des Vulkans würde ein Ausbruch diesen Ausmasses zweifellos eine Katastrophe bedeuten.