Die Fahrt übers Mittelmeer beginnt mit einem Anruf nach Winterthur ZH. «Stehe an der Küste, brauche deine Hilfe», sagt S.* zu seinem Bruder Y.*, der in Winterthur lebt. S. ist ein Teenager aus Eritrea auf der Flucht. Er sitzt in Libyen fest, weil er kein Geld mehr hat.
Schlepper brachten ihn über Äthiopien und Sudan ans Mittelmeer. Nun verlangen sie 1800 Franken für die Fahrt übers Wasser nach Italien. «Wohin kann ich dir Geld schicken?», fragt Y. (27) seinen Bruder. S. reicht das Handy weiter. «Der Schlepper erklärt es.»
Es ist Ende Oktober 2013. Das nun folgende Gespräch zeigt, was Schweizer Behörden bisher nicht wussten: Banden, die Menschen von Afrika nach Europa schleusen, kassieren dafür bar in der Schweiz. «Über welches Western-Union-Büro soll ich überweisen?», fragt Y. auf Tigrinisch, der Sprache Eritreas.
«Nicht Western Union, ruf diese Nummer an», antwortet der Schlepper und liest ihm eine Nummer mit Vorwahl 076 vor – ein mobiler Anschluss in der Schweiz. «Dort erfährst du, was jetzt zu tun ist.»
Tatort HB Zürich
Y., der 2008 in die Schweiz kam und perfekt Deutsch spricht, ruft an. Er ist verbunden mit einem Mann in Neuenburg. Der gibt ihm eine neue Nummer mit Vorwahl 076.
Ein Eritreer namens T*. nimmt ab. «Wir treffen uns am Sonntag an der Löwenstrasse, beim Zürcher Hauptbahnhof.» Er befiehlt: «Bring 1800 Franken mit, plus zehn Prozent für mich.»
Es ist der 3.November 2013, in Zürich ist es dunkel. Y. bringt das Geld an die Löwenstrasse. Ein Freund begleitet ihn und fotografiert heimlich. Y. trägt beige Hosen, T. Jeans. Beide hüllen sich in warme, schwarze Jacken.
Sie wechseln Bares und wenige Worte. «Ich bin kein Schlepper», sagt T. «Ich treibe allein das Geld für sie ein.» Y. kann nun nur noch hoffen, dass sein Bruder in Libyen aufs Schiff darf.
Tage nach der Zahlung in Zürich kauert S. im engen Boot nach Italien. Seine Odyssee endet in Chiasso TI. Sofort bittet er die Schweiz um Asyl.
Der Fall zeigt: Flüchtlinge buchen und bezahlen Reisen über das Mittelmeer in der Schweiz.
Es ist kein Einzelfall. «Geldübermittler wie Western Union sind out», sagt Y. «Viele Schmuggler treiben ihr Geld von Eritreern auf der Strasse in der Schweiz ein – in bar.»
Die Preise steigen ständig. Y. zahlte 2008 für die ungemütliche Fahrt mit 350 zusammengepferchten Passagieren 1300 Dollar, überwiesen per Western Union von einem Cousin von Chicago nach Libyen.
Ein Bekannter lieferte letztes Jahr in St. Gallen 2200 Franken ab, plus 300 für den Geldboten. Ein Nachbar zahlte 2500 Franken in Winterthur, plus 15 Prozent Provision.
Schweizer Ermittler sind verblüfft. Das Staatssekretariat für Migration weiss von nichts, ebenso die Bundespolizei: «Das Fedpol hat keine Kenntnisse über solche Vorgänge, sagt ein Sprecher. «Fedpol ermittelt nicht direkt in solchen Fällen.»
Angewiesen wäre es auf Informationen aus den Kantonen. Die Kantonspolizei Zürich tappt ebenfalls im Dunkeln. «Uns ist die Praxis unbekannt», so ein Polizeisprecher der Kantonspolizei.
Eine eritreische Aktivistin in der Schweiz kennt die Praxis. SonntagsBlick kontaktiert T. Er spricht kaum Deutsch, bestätigt den Vorgang, hängt auf.
Lange ist das Geld nicht in der Schweiz. Ein Kurier bringt es nach Mailand (I). Das US-Magazin «Newsweek» zeigte unlängst, wie es über italienische, israelische und äthiopische Banken fliesst, oft nach Dubai und China.
Von dort organisiert die Schlepper-Mafia ein globales Geschäft, bezahlt Handlanger in Äthiopien und Eritrea, die Flüchtlinge in den Sudan führen, und Sudanesen, die sie in Pick-up-Trucks durch die Wüste transportieren.
Weitere Kosten fallen in Libyen an. Dort kaufen Schmuggler Boote, mieten karge Unterkünfte.
Milliardengeschäft
Die Investitionen lohnen sich, Schlepper verdienen gut. Beim aktuellen Preis von 2500 Franken kassierten sie im ersten halben Jahr bei 150000 Überfahrten 375 Millionen Franken. Auf sieben Milliarden Dollar schätzt «Newsweek» den Gesamtumsatz für den einträglichen Menschenschmuggel nach Europa.
Es ist Blutgeld. Letztes Jahr ertranken laut Uno mindestens 3419 Personen im Mittelmeer. Dieses Jahr könnten es 10000 werden. Andere sterben in der Wüste. Um nicht zu verdursten, trinken sie den eigenen Urin. Allein reisende Kinder fallen von Autos. Frauen erleiden sexuelle Gewalt.
Die Ärztin Fana Asefaw betreut in Winterthur geflohene Eritreer. «Viele erreichen die Schweiz traumatisiert», sagt sie. «Mädchen wurden vergewaltigt.» Was Schleuser genau wüssten. «Sie spritzten ihnen im Sudan Hormone, damit sie nicht schwanger werden.»
Aus keinem Land suchen in der Schweiz mehr Menschen um Asyl nach als aus Eritrea. Ende Mai waren 9865 im Asylprozess, fast alle kamen übers Mittelmeer. In Kauf nahmen sie die gefährliche Reise, weil sie keine Zukunft sehen.
Der Bundesrat redet von «besorgniserregender Menschenrechtslage» am Horn von Afrika, die Uno von «willkürlichen Hinrichtungen» und «systematischer Folter». Dänemark und Grossbritannien beurteilen Eritrea als sehr arm, aber nicht als repressiv.
Den Schleppern sei all das egal, sagt Y. Weder würden sie für noch gegen das Regime in Eritrea arbeiten. «Es sind Geschäftsleute.»
2015 erwarten sie hohe Zuwachsraten. Noch mehr Syrer, Somalier und Eritreer sind unterwegs. Wagten 2014 rund 250000 Menschen die Reise über das Mittelmeer nach Europa, rechnet die EU für 2015 mit einer halben Million.
Am 31. Oktober 2008 kam Y. in die Schweiz. Er kaufte sich ein Wörterbuch, lernte Deutsch, erhielt Asyl, machte eine Anlehre und steht nun im dritten Lehrjahr als Sanitärinstallateur. In Äthiopien heiratete er Jugendliebe R.* (24). Das Paar hat einen zweijährigen Sohn.
Und der Bruder, für den er 1980 Franken an die Löwenstrasse brachte? S., jetzt 18, macht eine Anlehre als Polymechaniker. Warum spricht Y. so offen? «Weil die Schlepper von der Not in Eritrea profitieren, das muss aufhören.»