Carla Del Ponte (68) über das Böse
«Man will immer die Täter verstehen. Ich verstand das nie»

Völkermord, Fifa-Korruption, Kriegsverbrecher. Carla Del Ponte, die ehemalige Bundesanwältin und Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Kriegsverbrechen in Jugoslawien und in Ruanda, hat viel erlebt und bewegt. Heute setzt sie sich für die Menschenrechte in Syrien ein, auch vor Ort.
Publiziert: 06.07.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 22:14 Uhr
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«Wir können uns nicht einhagen in der schönen Schweiz.» Carla Del Ponte (68).
Foto: Mirko Ries
Von Christoph Lenz, Thomas Ley (Interview) und Mirko Ries (Fotos)

BLICK: Wir treffen Sie beim Golfen. Ein typischer Rentnersport.
Carla Del Ponte: Ach was! Ich golfe seit meiner Zeit beim Ruanda-Tribunal vor fast 15 Jahren. Damals war ich in Tansania stationiert, und dort gab es kaum eine Freizeitaktivität ausser Golfen.

Sind Sie gut? Ihr Handicap?
21. Aber ich möchte unter 20 kommen. Ich spiele auch Bridge. Nahm darin extra Unterricht nach der Pensionierung, weil man mir sagte, das sei gut fürs Gehirn.

Haben Sie denn zu wenig zu tun?
Gar nicht. Eigentlich möchte ich ein zweites Buch schreiben, diesmal einen Krimi. Aber ich komme nicht dazu.

Die Themen Ihres ersten Buches, Ihrer Autobiografie, holen Sie immer wieder ein. In diesen Tagen ist es 20 Jahre her seit Srebrenica. Woran denken Sie da?
Dass wir beim Jugoslawien-Tribunal vier Prozesse durchführten, die alle mit Verurteilungen endeten.

Der wohl Hauptverantwortliche, Serbiens Ex-Präsident Slobodan Milosevic, ist nicht darunter. Er starb während des Prozesses.
Leider. Aber General Ratko Mladic, der den Völkermord vor Ort organisierte, steht noch vor Gericht. Und wird verurteilt werden, davon bin ich überzeugt.

Wofür steht Srebrenica? Für 8000 zufällige Tote? Kollateralschäden in einem Bürgerkrieg?
No, no, no! Das war ein Völkermord, präzise geplant. Die Uno hatte Srebrenica 1995 zur Sicherheitszone erklärt, und die Muslime flohen dorthin. Am Ende waren es gut 8000. Für Milosevic und Mladic die Gelegenheit, diese Bosnier zu vernichten. Ganz einfach. Die holländischen Uno-Soldaten dort alarmierten New York, doch keiner reagierte bei der Uno. Also zogen sie ab.

Sie liessen die Stadt im Stich.
Ja, aber sie wären sonst genauso umgebracht worden.

Wirklich? Hätte Mladic Blauhelme ermorden lassen?
Ja. In jenen Tagen zweifellos. Man darf den Holländern keinen Vorwurf machen. Umso bedauerlicher, dass der Milosevic-Prozess abgebrochen wurde. Ich hatte Telefonprotokolle, die 1995 den USA und der Uno vorlagen. Darin macht Mladic seine Pläne klar: Völkermord!

Die Weltgemeinschaft liess es zu?
Man diskutierte über Srebrenica und unternahm nichts, ja.

Ex-Präsident Bill Clinton gibt heute zu, man habe auch 1994 versagt, beim Völkermord in Ruanda. Man habe es falsch eingeschätzt.
Nichts da! Dort waren Franzosen stationiert und lieferten haargenaue Berichte. Washington wusste Bescheid, tat aber nichts. So ist die Politik.

Dann war das Tribunal doch ein Fehlschlag: Milosevic tot, Mladic seit Jahren vor Gericht, die politische Verantwortung ungeklärt.
Nein. Mladic wird verurteilt, so wie die grosse Mehrheit der Hauptverantwortlichen. Ohne uns wäre keiner gegen diese Kriegsfürsten vorgegangen.

Was bleibt davon?
Da bin ich pessimistischer. Es scheint, als hätten die Tribunale kaum präventive Wirkung – wenn ich nach Syrien schaue.

Sie halten den Bürgerkrieg in Syrien ja für noch schlimmer als die Jugoslawien-Kriege.
Schlimmer in dem Sinne, dass nicht nur getötet und vertrieben wird, sondern auch gefoltert, bis die Opfer sterben.

Wer begeht die Verbrechen?
Alle. Was die IS-Terroristen anrichten, ist unglaublich. Und die syrische Armee bombardiert Dörfer mit Chloringas. Auch das ist eine Form der Folter, weil man langsam daran krepiert.

Muss die Welt einschreiten?
Dieser Moment ist verpasst. Nach den ersten Grausamkeiten hätte man Präsident Assad wohl unter Druck setzen können. Inzwischen ist alles eskaliert, und Assad erscheint manchen schon als kleineres Übel.

Haben Sie noch die Übersicht?
Wir kennen die militärische Situation. Wir wissen genau, wo sie alle stehen: IS, Al-Nusra, die Kurden, die Regierungsarmee.

Und, wer gewinnt?
Keiner kann mehr gewinnen. Es geschieht taktisch gar nichts. Sicher ist nur: Dieser Staat wird zerstört. Syrien wird nicht mehr existieren.

Was tun Sie jetzt dort?
Wir ermitteln. Auch wenn wir uns fragen: Für wen eigentlich?

Mit wem arbeiten Sie dort?
Mit allen. Ich stehe auch mit dem syrischen Regime in Kontakt und warte auf eine Zusage, einreisen zu können.

Kompromittiert man sich so nicht?
Anders geht es nicht. Ich kann nicht illegal ins Land schleichen. Vor allem gehen wir in die Nachbarländer Libanon, Jordanien, Türkei und interviewen syrische Flüchtlinge.

Und dann kommt alles ins Archiv?
Ja, leider. Alle sechs Monate fertigen wir einen Bericht zuhanden des Uno-Menschenrechtsrats in Genf an. Und wir warten, bis es endlich ein Tribunal gibt.

Wer verhindert denn eines?
Der Uno-Sicherheitsrat, also vor allem Russland und China.

Sie sehen schwarz für Syrien.
Ja, sehr. Mit dem IS ist nicht einmal mehr eine politische Lösung möglich. Die wollen nicht reden. Ich bin keine Kriegstreiberin, aber bevor man das Zen­trum des IS nicht zerstört, wird es nie Friedensgespräche geben.

Seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit den schlimmsten Verbrechen. Sind Sie zynisch geworden?
Nein, gar nicht. Ich bin ja in diese Schrecken hineingewachsen sozusagen. Ich lasse bei meiner Arbeit seit Jahren keine Gefühle mehr zu. Zum Glück. Manche meiner Mitarbeiter im Ruanda- und Jugoslawien-Tribunal mussten aufhören. Weil es sie psychisch zu sehr mitnahm. Man braucht einen besonderen Charakter – glücklicherweise habe ich den.

Dafür wurden Sie schon als Mafia-Ermittlerin bedroht. Wie gewöhnt man sich an so etwas?
Puh, ich weiss nicht. Als ich Mafiajäger Falcone zum ersten Mal traf, stand er schon unter Dauerbewachung. Und ich fragte ihn: «Giovanni, wie erträgst du das nur? Ich könnte das nie!» Wenig später befand ich mich in der gleichen Situation.

Kein Privatleben, viel Dossierarbeit, oft auch Misserfolge vor Gericht: Wie motiviert man sich da?
Mit Leidenschaft für die Arbeit! Und es ist befriedigend, wenn man üble Kriminelle hinter Gitter bringt. Und noch jemand motiviert einen: die Opfer. Als ich für das Jugoslawien-Tribunal nach Sarajevo kam, erwarteten mich 400 Frauen. Ich liess sie ins Büro, auch wenn das dem Sicherheitschef nicht passte. Und hörte zu, was diese armen Frauen erlebt hatten.

Ist das nicht eher belastend?
Ich fühlte mich sehr klein damals. Ich wollte Milosevic verhaften, damals noch amtierender Präsident Serbiens. «Dio mio», sagte ich mir, «das schaffst du nie.» Aber nach diesem Treffen mit den Opfern waren meine Batterien voll aufgeladen.

In Syrien gibt es noch kein Tribunal, nur Flüchtlinge. Der Bundesrat will in den nächsten drei Jahren 3000 syrische Flüchtlinge aufnehmen. Was halten Sie davon?
Ich würde diese 3000 schon bis Ende Jahr aufnehmen. Dann nochmals 3000. Und dann nochmals 3000, wenn nötig.

Warum?
Es ist das Mindeste, was wir tun können. In der Schweiz haben wir es nun wirklich gut. Gehen Sie in den Libanon oder nach Jordanien: Dort halten sich mehr als eine Million syrische Flüchtlinge auf. Europa muss seine Tore öffnen für Menschen, die sonst an Hunger, an Krankheiten, am Krieg sterben. Wir können uns nicht einfach einhagen in unserem schönen Land und die Augen verschliessen.

Die Schweizer befürchten, dass die Syrer dann bleiben.
Ich sage Ihnen: Die Syrer warten sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie in ihre Heimat zurückkehren können.

Aber Sie sehen ja selber kein Ende des Bürgerkrieges.
Dann erst recht! Oder wollen wir noch einen Völkermord, diesmal an der syrischen Bevölkerung – und die Welt schaut zu?

Wäre Hilfe vor Ort nicht besser?
Die Schweiz leistet ja hervorragende Hilfe! Betreibt Spitäler in den Flüchtlingslagern. Trotzdem flüchten Leute bis nach Europa. Die müssen und können wir aufnehmen. Die alte Kaserne in Losone ist jetzt Asylunterkunft. Zuerst hatten die Nachbarn Bedenken, jetzt funktioniert es wunderbar.

Eine Kaserne voller Menschen, die zur Untätigkeit verdammt sind?
Also kürzlich, als ich zum Golfplatz ging, traf ich eine Kolonne von Flüchtlingen. Sie gingen zur Waldarbeit. Alle in orangefarbener Uniform und gut gelaunt, sie sangen sogar Lieder. Am Fluss unten gibt es viel zu tun. Später sah ich sie dort bei der Arbeit. Natürlich waren sie nicht unendlich fleissig (lacht), aber sie haben sich bemüht.

Und doch will der Tessiner Regierungsrat Norman Gobbi die Grenzen schliessen. Offenbar sind nicht alle so entspannt.
Da sehen Sie den Unterschied zwischen Politikern und der Bevölkerung.

Immerhin sagte das Tessin mit 68 Prozent Ja zur SVP-Masseneinwanderungs-Initiative.
Da war ich erstaunt. Ich nehme an, dass die Leute schlecht informiert waren. Wir als Grenzkanton sollten den Austausch mit dem Ausland gewöhnt sein.

Apropos Politik: Was sagen Sie als ehemalige Bundesanwältin zu Ihrer alten Behörde? Obwohl genau das immer wieder kritisiert wurde, führt man dort wieder viele aufwendige Verfahren.
Das ist gut. Die sollen arbeiten.

Fehlt denen eine Carla Del Ponte?
Nein. Die Carla Del Ponte war ein besonderer Fall – und sie hatte ihre Erfolge, das kann ich heute gut sagen. Aber es gibt viele andere, die gut sind. Oder besser. Wobei, besser als Carla Del Ponte ist schwierig (lacht).

Ist die Fifa nicht eine Nummer zu gross für die Bundesanwaltschaft?
Ach was, kein Fall ist zu gross. Man muss einfach korrekt ermitteln. Bei der Fifa gibt es vieles aufzuklären.

Aber zuerst mussten die Amerikaner den ersten Schritt tun, bevor die Schweizer es wagten.
Mit Wagnis hat das nichts zu tun. Man braucht konkrete Verdachtsmomente. Man kann nicht am Morgen aufwachen und Verfahren eröffnen.

Bei der Fifa gab es doch seit Jahren Verdachtsmomente.
Das weiss ich nicht. Wie auch immer: Jetzt wird ermittelt. Hoffen wir auf einen Erfolg.

Was wäre ein Erfolg?
Dass wir die Wahrheit erfahren.

Würde Sie dieser Fall nicht selber reizen?
Ich wurde einmal von den Amerikanern angefragt, ob ich bei der Fifa ermitteln wolle.

Wann?
Vor gut drei Jahren. Ich sagte zu, aber es wurde trotzdem nichts daraus.

Warum?
Keine Ahnung. Der ehemalige FBI-Chef sprach mich im Namen des US-Justizministeriums an. Ich sollte Mitglied einer Ermittlungskommission bei der Fifa werden. Nach einigen Wochen sagte er mir, man habe sich anders entschieden.

Hätten Sie je die Seite wechseln wollen? Von der Anklägerin zur Verteidigerin oder Richterin?
Ich war Verteidigerin in meiner Ausbildung – und ich mochte es nicht. Meine Angeklagten waren ja schuldig. Ich empfahl ihnen also zu gestehen und die Strafe zu schlucken. Im Prozess beneidete ich den Staatsanwalt. Ich fand, der war auf der richtigen Seite. Ich war eine ganz fürchterliche Verteidigerin.

Es gehört doch zu unserem Rechtssystem, dass auch der grösste Gauner eine gute Verteidigung erhält.
Sicher. Aber für diese Aufgabe braucht man einen anderen Charakter, als ich ihn habe.

Und Richterin?
Langweilig, denke ich mir. Man sitzt da und muss zuhören. Ich wäre nur gerne Richterin, um härtere Strafen auszusprechen.

Woher kommt das?
In Den Haag erhielten manche Bösewichte nur zwölf Jahre, obwohl sie 25 hätten kriegen müssen, mindestens. Man versucht immer, die Täter zu verstehen. Wer etwas anstellt, darf erzählen, wie kaputt seine Kindheit war, wie wenig ihn seine Mutter liebte, dass die Schule hart und der Vater ein Trinker war. Das verstand ich nie. Diese Typen sind jetzt erwachsen und müssen für ihre Taten geradestehen.

Sind manche Menschen einfach nur böse?
Ja, es gibt sogar sehr böse Menschen. Viele sehen nicht so aus. Sie sind Minister, haben Manieren, sind freundlich und charmant. Aber sie denken böse. Ja, die gibt es.

Kann man das Böse erklären?
Kriegsverbrechen verstehen wir heute sehr gut. Das ist Ideologie, Macht, Politik. Andere Verbrechen haben oft kompliziertere Gründe. Aber deswegen muss man nicht die Strafen senken. Täter sollen Zeit haben, über ihre Tat nachdenken zu müssen. Sieben Jahre für einen Mord reichen dafür nicht.

Die Toten werden durch harte Strafen nicht wieder lebendig.
Stimmt. Aber darum geht es nicht, sondern auch um Genugtuung für die Opfer. Die Angehörigen der Opfer in den Kriegsverbrecherprozessen waren erleichtert, wenn harte Strafen ausgesprochen wurden. Die Justiz hatte ihr Leiden anerkannt.

Die SVP plant eine Initiative gegen das Primat des Völkerrechts, will vielleicht gar die Menschenrechtskonvention kündigen.
Dafür muss ich ein schlimmes Wort benützen: Blödsinn!

Es ist doch stossend, wenn internationale Richter der nationalen Rechtsprechung dreinreden.
Nein. Erstens haben die nationalen Richter immer noch genug zu tun. Zweitens sind die Menschenrechte auch unsere Rechte und die fremden Richter auch unsere Richter. Schon allein, weil auch viele Schweizer in Strassburg arbeiten.

Aussenminister Didier Burkhalter werden Ambitionen für den Generalsekretärsposten der Uno nachgesagt. Trauen Sie ihm das zu?
Er wäre gut, sogar sehr gut.

Hat er eine Chance?
Kann man nie wissen. Als Bern mich damals anrief, ob ich kandidieren wolle als Jugoslawien- und Ruanda-Anklägerin, fragte ich: «Habe ich Chancen?» Der damalige Staatssekretär sagte: «Nein, keine Chancen, aber es wäre gut für die Schweiz.» Dann rief plötzlich Uno-Generalsekretär Kofi Annan an. Hoffentlich kriegt Burkhalter auch so einen Anruf.

Man sagt aber auch, dass jetzt eine Frau an der Reihe wäre.
Ach was! Inzwischen sind wir so weit, dass man kein Geschlecht bevorteilen muss.

Sie lehnen die Frauenquote ab?
Ja. Klar, es gibt weniger Frauen in Führungspositionen. Aber Frauen haben auch eine grosse Hauptaufgabe: die Familie, die Kinder. Mit zwei oder drei Kindern kann eine Mutter nicht mehr gross Karriere machen.

Sie selber schafften das.
Nein, ich schaffte es nicht. Ich hatte zwei Scheidungen. Mein Kind wuchs bei der Grossmutter auf. Tun wir nicht so, als wäre ich in dieser Hinsicht erfolgreich gewesen.

Machen Sie sich Vorwürfe, weil Sie Ihren Sohn so wenig sahen?
Nein.

Macht Ihr Sohn Ihnen Vorwürfe?
Manchmal.

Inwiefern?
Ich bin eine ganz gute Grossmutter. Da sagt er manchmal: «Zu mir warst du nicht so lieb.» Ich sage dann: «Klar war ich zu dir lieb. Aber ich hatte keine Zeit. Ich musste arbeiten.»

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