BLICK-Reporter Viktor Dammann erinnert sich an den Fall Tschanun
Der Mörder zeigte nur einmal Gefühle

Am 16. April 1986 erschoss der damalige Chef der Zürcher Baupolizei Günther Tschanun vier seiner Amtskollegen. Die Schreckenstat bewegt die Beteiligten auch dreissig Jahre nach dem Drama.
Publiziert: 08.02.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2018 um 19:01 Uhr
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Günther Tschanun richtete seine Untergebenen eiskalt hin.
Foto: Keystone
Viktor Dammann

Amokläufe kennt man vornehmlich aus den USA. Der Fall des Zürcher Baupolizeichefs Günther Tschanun (damals 45) gehörte mitnichten in diese Kategorie. Die Schreckenstat vom 16. April 1986 war ein eiskalt kalkulierter Mehrfachmord.

Ich kann mich noch genau an jenen Morgen erinnern. Mit einem Journalistenkollegen spielte ich Tennis. Um kurz vor neun Uhr meldete sich mein Beeper – Handys und Internet gabs damals noch nicht. Der BLICK-Nachrichtenchef informierte mich über eine Schiesserei bei der Zürcher Bau­polizei mit Verletzten. Zwei Kollegen seien schon vor Ort, ich solle umgehend auf die Redaktion kommen. Langsam kristallisierte sich heraus, dass der Chef der Baupolizei auf verschiedene seiner Kollegen geschossen hatte.

Ungefähr im Halbstundentakt informierte die Polizei an diesem Tag über das Schicksal der Opfer. Viele Angehörige mussten aus dem ­Radio ­die Nachricht erfahren, dass ihre Liebsten nie mehr nach Hause kommen würden. Eine Ehefrau war ­zu ­jenem Zeitpunkt gerade am Stillen ihres ­Babys. Am Ende des Tages waren vier von Tschanuns Untergebenen (31 bis 51 Jahre alt) tot. Zurück blieben: vier Witwen und sechs Halbwaisen. Ein Abteilungs­leiter kam mit schweren Schussverletzungen davon.

Bedauerlicherweise verwendete auch ich anfänglich den Begriff Amoklauf – bis mich die Einzelheiten der Bluttat eines Besseren belehrten.

Erst zwei Jahre zuvor hatte der damalige Zürcher Stadtrat Hugo Fahrner den gebürtigen Österreicher Tschanun, einen Architekten ohne Führungserfahrung, von Bern nach Zürich geholt. Ein krasser Fehlentscheid, wie sich schnell herausstellte.

Wegen Tschanuns fehlender juristischer Kenntnisse blieben haufenweise Geschäfte liegen. Statt sich von seinen erfahrenen und ihm unterstellten Architekten und Juristen in die Zürcher Verhältnisse einweisen zu lassen, schloss sich Tschanun tagtäglich in seinem Büro ein.

Schliesslich verfassten einige Mitarbeiter, die zusehends unter ihrem führungsschwachen Chef litten, gegen Tschanun eine interne Beschwerde, von der er erfuhr. Zu jeder Selbstkritik unfähig, «löste» der Chefbeamte das Problem mit seinem Trommelrevolver Taurus, den er sich ursprünglich aus Angst vor dem Ehemann seiner Geliebten beschafft hatte. Mit dem geladenen Revolver im Veston begab sich Tschanun am verhängnisvollen Aprilmorgen in sein Amtshaus IV. Pikant: Das Büro lag vis-à-vis der Hauptwache der Zürcher Stadtpolizei.

Kalt und berechnend führte der Baupolizeichef seinen Rachefeldzug durch. Er schritt  ohne Hast von Büro zu Büro und richtete seine vermeintlichen Feinde mit Kopfschüssen hin. Teilweise vor den Augen entsetzter Besucher, die mit den Opfern in ein Gespräch vertieft waren. Danach lud er seelenruhig nach und schoss auf einen Abteilungsleiter. Zu diesem sagte Tschanun sinngemäss, dass er es sich lange überlegt habe, es aber nicht ­anders gehe.

Nach der Bluttat flüchtete der Todesschütze mit dem Zug nach Frankreich. Er wird dort drei Wochen später verhaftet. Beim Prozess vor dem ­Zürcher Obergericht, rund zwei Jahre später, tat Tschanun nur sich selbst leid. «Ich sehe keine Zukunft für mich», so der Mann, der vier Familien das Glück und die Zukunft geraubt hatte.

Der Vierfachmörder zeigte an diesem Tag nur einmal Gefühle. Als das Gericht wegen einer Bombendrohung geräumt werden musste, verlor Tschanun die Fassung und schlug aus Angst seine Hände vors Gesicht. Der Schuldspruch lautete nicht auf Mord, sondern lediglich auf mehrfache vorsätzliche Tötung. Die Mehrheit des Gerichts glaubte, dass Tschanun in seinem Amt keine Chance gehabt hätte, somit die Opfer eine Mitschuld an ihrem Schicksal hatten. Für die Angehörigen war das Urteil eine schallende Ohrfeige.

Der Staatsanwalt Marcel Bertschi aber wollte Tschanun als Mörder verurteilt sehen. Das Bundesgericht gab seiner Berufung statt und hielt zudem klar fest, dass von einer Mit­verantwortung der Opfer keineswegs ausgegangen werden könne. Jetzt wurde die Strafe auf 20 Jahre Zuchthaus erhöht.

Doch auch diese richtige Feststellung drang nicht in die Köpfe und Herzen der Bevölkerung. Noch Jahre später, wenn ich mit jemandem über den Fall Tschanun diskutierte, herrschte die Meinung vor, Günther Tschanun hätte «doch nur» seine ihn mobbenden Vorgesetzten getötet – quasi in Notwehr.

Diese Erfahrung machten auch Angehörige der Opfer. Der Sohn eines der Erschossenen schilderte mir Jahre später, was er sich für Sprüche anhören musste. «Es sei doch verständlich, dass ein Untergebener, der ständig von seinem Chef schikaniert werde, einmal zur Waffe greife – dabei war ja Günther Tschanun der Vorgesetzte.»

Ein Toter war der Bruder ­eines früheren Schulkollegen von mir. Seine 80-jährige Mutter sagte mir 13 Jahre nach der Tat: «Das Bundesgericht hat schliesslich die Opfer rehabilitiert. Nur hat die Öffentlichkeit es leider nicht richtig zur Kenntnis genommen.» Ich traf die hellwache Rentnerin 1999, als Tschanun zwei Drittel seiner Strafe abgesessen hatte und vor der bedingten Entlassung stand.

Die Dame erzählte mir auch, dass ihr ermordeter Sohn für seine Kinder, also ihre Enkel, noch immer präsent sei: «Vor wichtigen Entscheidungen besuchen sie sein Grab und zünden eine Kerze an. Weil sie sicher sind, dass er ihnen beisteht.» Für die Mutter war klar: «Tschanun müsste für immer im Gefängnis bleiben. Er ändert seinen Charakter nicht.»

Auch der Sohn (53) eines weiteren Opfers findet es unerträglich, möglicherweise dem Mörder seines Vaters über den Weg zu laufen. «Mit der Tat hat er meine Mutter mitgetötet.» Selbst im Schock habe er als 22-Jähriger alle Bestattungsformalitäten alleine erledigen müssen: «Die Stadt hat keinen Finger gerührt.»

Von der Entlassung Tschanuns aus dem Gefängnis erfuhren die Opferfamilien aus den Medien. Wegen eines Zustellfehlers kamen die Briefe der Justizdirektion einen Tag zu spät an.

Wo der heute 75-jährige Günther Tschanun jetzt lebt, ist unbekannt. Er soll seinen Namen geändert haben. Ein Interview zu seiner Schreckenstat hat er immer verweigert.

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