Tabu-Thema Intersexualität – jetzt spricht eine Mutter
Mein Kind ist Bub und Mädchen

Ihr Kind (13) ist weder Bub noch Mädchen. Doch Karin Plattner versteckt sich nicht, sie kämpft gegen das Tabu.
Publiziert: 18.11.2012 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 20:07 Uhr
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Karin Plattner (42) aus dem Baselland ist Mutter eines intersexuellen Kindes (13).
Foto: Sabine Wunderlin
Von Sarah Weber (Text) und Sabine Wunderlin (Fotos)

Sie strahlt Fröhlichkeit und Lebensfreude aus – von Belastung, Scham und Sorgen keine Spur. Sie will kein Mitleid, sie will aufklären. Karin Plattner (42) aus dem Baselland ist Mutter eines intersexuellen Kindes (13). Der Teenager ist weder eindeutig Mädchen noch Bub. Intersexualität ist in der Schweiz ein Tabu. «Ich wusste vor 13 Jahren auch nicht, was das ist», sagt Plattner. Dann kam ihr Baby auf die Welt.

«Die Hebamme untersuchte das Neugeborene und sagte zu mir: ‹Ich weiss nicht, was es ist›», erzählt die Unternehmerin. «Ich war ratlos und machte mir Sorgen,dass es nicht gesund ist. Ich fragte bei den Ärzten nach. Doch niemand konnte genau sagen, was los ist.»

Die Plattners sind verwirrt. Das Kind kommt in ein anderes Spital, wird zum Testobjekt: Hormonstatus, genetische Untersuchungen, Ultraschall, verschiedene Ärzte untersuchen alles Mögliche.

«Ich lag geschwächt im Spital. Bekannte und Freunde riefen an, fragten: ‹Und? Was ist es?› Ich wusste es nicht. Das war nicht einfach.» Drei Tage nach der Geburt verlangt das Standesamt einen Namen. «Ein Name muss eindeutig männlich oder weiblich sein. Wir hatten für unser Kind erst einen Kosenamen.»

Die Ärzte haben eine Lösung parat. «Nach all den Tests sagten sie, dass sie aus unserem Kind ein Mädchen machen wollen.» Das Kind habe wahrscheinlich eine Gebärmutter und eine Vagina. Als Genitalien hat es eine vergrösserte Klitoris.

 «Auf welches WC geht es?»

«Die Ärzte erklärten, dass sie aus diesem Genital keinen Buben machen könnten. Der Penisaufbau sei viel schwieriger, als eine künstliche Vagina zu formen», erzählt Karin Plattner. Die Mediziner drängen auf eine Entscheidung. «Sie warnten uns vor Problemen, wenn wir das Kind nicht operieren lassen. Was macht es im Schwimmen, im Turnen, auf welches WC geht es?», erzählt die Mutter. «Sie sagten auch, ich dürfe das niemandem sagen, das würde das soziale Aus für meine Familie bedeuten, das Kind werde gemobbt.»

Die Plattners, überfordert von all den Aussagen, vereinbaren einen Operationstermin und geben dem Kind den Namen Franziska*.

Und das,obwohl die Tests auch ergeben haben, dass das Kind, genetisch betrachtet, eigentlich ein Bub ist: Es hat einen männlichen XY-Chromosomensatz. «Das machte mich einfach unsicher, ob es wirklich richtig ist, das Geschlecht jetzt zu entscheiden.»

Das Paar beginnt, im Internet zu recherchieren, liest alles, was es findet. «Nach Begegnungen mit anderen Betroffenen, die körperlich und psychisch extrem unter den Folgen der frühen Operation leiden, wuchs in uns der Widerstand gegen den Eingriff», erinnert sich Karin Plattner. «Ich erkundigte mich, ob es einen medizinischen Grund für die Operation gab. ‹Nur gesellschaftliche Gründe›, lautete die Antwort.»

Das überzeugte sie nicht. «Franziska ist gesund, aber halt anders. Wir entschieden uns, mit der Operation zu warten, bis sie selber mitreden kann.» Plattners sagen den Termin ab, nehmen ihr Baby nach Hause.

Dass Franziska anders ist, bleibt nicht lange unbemerkt. «Getratscht wird sowieso. Deshalb entschied ich mich, offen darüber zu informieren», sagt Karin Plattner. «Einmal sagte Franziskas Cousine beim Wickeln: ‹Ui, das ist ja gar kein Mädchen! Sie sieht ja anders aus!›» Plattner geht mit der Kleinen vor den Spiegel: «Ich fragte sie: ‹Hast du die gleiche Nase wie ich? Oder die gleichen Ohren?›» – «Nein», sagte die Cousine. «Ich erklärte ihr, dass Franziska halt dort ein bisschen anders aussieht», so Plattner.  Damit sei das Thema für die Kleine erledigt gewesen.

Franziska wird weder Menstruation noch Kinder haben

Die Mutter musste auch Franziska erklären, was mit ihr los ist, warum sie anders ist. «Ich sagte ihr: ‹Es gibt Mädchen und Buben. Dazwischen gibt es noch ganz viele Varianten. Zu denen gehörst du. Du hast das Glück, dass du selber wählen darfst, was du lieber sein möchtest›», erzählt die Unternehmerin.

Franziska kommt in den Kindergarten, später in die Schule. «Ich informierte die Lehrpersonen und die engeren Gspänli. Niemand hat je negativ darauf reagiert, sondern das Thema war vom Tisch», sagt sie.

Franziska hat keine Probleme, Freunde zu finden. Sie ist aufgeschlossen, hat einen grossen Bekanntenkreis. «Damit ein Kind gemobbt wird, muss es nicht intersexuell sein. Andere sind dick oder haben sonst etwas. Im Alltag ist das für uns kein Thema mehr.»

Inzwischen ist Franziska 13 Jahre alt. Sie weiss, dass sie weder Menstruation noch Kinder haben wird. «Vielleicht hat sie auch mehr Mühe, später einen Partner zu finden. Diesen Weg muss sie gehen. Das kann ihr niemand abnehmen», so die Mutter. Doch jeder müsse schliesslich lernen, sich selber anzunehmen und zu mögen.

Karin Plattner ist froh, dass sie damals vor 13 Jahren ihr Kind so angenommen hat, wie es ist. «Wir wussten ja so wenig. Aber ich bereue das keine Sekunde. Ich bin sicher, dass unser Kind seinen Weg geht.»

* Name geändert

Verein hilft Intersexuellen

Katrin Platter (42) ist Präsidentin des Vereins «Selbsthilfe Intersexualität». Den Verein gründete die Baselländerin, um sich mit anderen Eltern und Betroffenen zu vernetzen. Die Gruppe wehrt sich gegen voreilige Operationen von intersexuellen Kindern. Zudem engagieren sie sich mit Schulungen und politischer Arbeit gegen die Tabuisierung der Intersexualität.  

Katrin Platter (42) ist Präsidentin des Vereins «Selbsthilfe Intersexualität». Den Verein gründete die Baselländerin, um sich mit anderen Eltern und Betroffenen zu vernetzen. Die Gruppe wehrt sich gegen voreilige Operationen von intersexuellen Kindern. Zudem engagieren sie sich mit Schulungen und politischer Arbeit gegen die Tabuisierung der Intersexualität.  

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