Dänische Forscher machten vor wenigen Jahren eine aufsehenerregende Entdeckung: Ihre Auswertung von 61 Studien ergab, dass sich die Zahl der Spermien in den vorangegangenen 50 Jahren um die Hälfte reduziert hatte. Seither geht die Sorge um – auch in der Schweiz.
2007 publizierten Forscher der Fondation Faber in Lausanne erstmals Zahlen zur Fruchtbarkeit von Schweizer Rekruten, die ebenfalls wenig erfreulich waren. Ende 2014 veröffentlichten die Wissenschaftler Vergleichszahlen. 2060 Rekruten waren seit 2005 untersucht worden. Die Ergebnisse liegen SonntagsBlick exklusiv vor.
Fazit: Jeder sechste Rekrut fällt beim wichtigsten Bewertungskriterium durch – der Spermienkonzentration. 16 Prozent erreichen die kritische Grenze nicht! Die wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO festgelegt. Mindestens 15 Millionen Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit sollte ein gesunder Mann aufweisen.
Unterhalb dieses Wertes beginnen «Probleme mit der Zeugungsfähigkeit», wie Studienleiter Alfred Senn (66) sagt, Fruchtbarkeitsforscher der Fondation Faber.
«Wir gingen bislang von fünf bis zehn Prozent aus, die als vermindert fruchtbar gelten», sagt Fabien Murisier (39), wissenschaftlicher Leiter des Diagnosezentrums Fertas für Infertilität, Lausanne. «Dass es so viele mehr sind, ist beunruhigend.»
Professor Christian de Geyter (57), Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin: «Eine schlechte Entwicklung.
Gerade vor dem Hintergrund, dass die Grenzwerte der WHO mittlerweile sehr tief angesetzt sind.»
2010 war die kritische Grenze von 20 auf 15 Millionen Spermien pro Milliliter herabgesetzt worden. Obwohl Wissenschaftler gezeigt hatten, dass die Zeugungsfähigkeit bereits ab 40 Millionen progressiv abnimmt. Würde man die Schweizer Rekruten nach dem früheren Grenzwert beurteilen, sähe es also düster aus.
«Dann sind bereits 23 Prozent der Schweizer Männer, knapp jeder vierte, vermindert zeugungsfähig», wie Alfred Senn zusammenfasst.
Ein weiteres Ergebnis der Studie: Werden sämtliche Kriterien herangezogen, anhand derer die Fruchtbarkeit gemessen wird, wie Anzahl, Beweglichkeit oder Beschaffenheit der Spermien, fällt mehr als die Hälfte der Rekruten durch. «56 Prozent der Untersuchten erreichen einen oder mehrere dieser Normwerte nicht», sagt Senn.
Jedes fünfte Paar ungewollt ohne Nachwuchs
Zwar könne man auch mit schlechter Spermienqualität Vater werden. Die Wahrscheinlichkeit jedoch sei geringer. «Die Wartezeit kann mehrere Jahre betragen, im schlimmsten Fall könnte eine Befruchtung unmöglich sein.» Heute bleibt jedes fünfte Paar in der Schweiz ungewollt ohne Nachwuchs.
Jedes zehnte versucht, seinen Kinderwunsch mit Hilfe der Medizin zu erfüllen. Die Kosten – pro Versuch einer In-vitro-Fertilisation (IVF) zwischen 4000 und 7000 Franken – tragen die Betroffenen selbst. In Österreich oder Deutschland ist das anders: Dort übernehmen die Krankenkassen einen Grossteil der Kosten.
Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Die Zahl der Spermien bei Schweizer Männern ist nicht zurückgegangen. «Die durchschnittliche Spermienkonzentration liegt bei 47 Millionen», so Alfred Senn von der Fondation Faber. «Der Wert ist damit gleich hoch wie 2007. Das ist erfreulich.»
In vielen anderen Ländern ist die Spermiendichte gesunken. Das zeigt ein internationaler Vergleich von Studien durch den renommierten dänischen Forscher Niels Jorgensen (53) vom Reproduktionszentrum der Universität Kopenhagen. Er befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema.
Um möglichst solide Ergebnisse zu erzielen, verglich Jorgensen nur Untersuchungen, die allen wissenschaftlichen Kriterien standhalten und denen eine ähnliche Methodik zugrunde liegt.
Sein Fazit: «Seit ein paar Jahrzehnten sinkt die Fruchtbarkeit in den meisten Ländern und ist heute auf einem sehr niedrigen Niveau.» So liegt die Spermienanzahl in Frankreich um ein Drittel, in Finnland um 17, in Spanien um 14 Prozent niedriger als früher.
1940 wies ein Durchschnittsmann noch 113 Millionen Spermien auf. Estland genügen heute 62 Millionen, um die Liste anzuführen. Schweizer liegen mit 47 Millionen an drittletzter Stelle, nur Deutsche und Spanier (44 Millionen) schneiden schlechter ab.
Die Ursache des Spermienschwunds ist nur teilweise geklärt. «Studien deuten darauf hin, dass eine Schädigung des Embryos während der Schwangerschaft verantwortlich sein könnte», sagt Alfred Senn. Und im Sperma jener Männer, die besonders schlechte Werte zeigten, wurden erhöhte Konzentrationen von Umweltgiften gefunden.
«Wir sind jeden Tag Hunderten von Chemikalien in homöopathischen Mengen ausgesetzt, die den Hormonhaushalt beeinflussen können», wie Professor Felix Althaus (65) vom Institut für Veterinärpharmakologie und -toxikologie der Uni Zürich die Lage beschreibt.
2017 soll eine neue Studie der Fondation Faber abgeschlossen sein. Mit hoffentlich neuen Erkenntnissen. Denn klar ist, so der Kopenhagener Forscher Jorgensen: «Diese Entwicklung geht rapide voran. Innerhalb nur einer Generation. Und sie wird künftige Generationen massiv beeinflussen.»
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