2000 Schweizer sind hochgefährlich
Amok-Register sollen Killer stoppen

Die Polizeikorps verstärken den Kampf gegen potentielle Gewalttäter. Sie führen ein Amok-Register und überwachen Psychopathen. 2000 Schweizer gelten als gefährlich.
Publiziert: 17.05.2015 um 14:29 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 22:29 Uhr
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14 Mal drückte der Schweizer mit türkischen Wurzeln vorletzten Samstag in Würenlingen AG ab.
Foto: Markus Heinzer
Von Katia Murmann und Walter Hauser

Am Schluss hatte Semun A. (†36) nur noch ein Ziel: Er wollte töten. 14 Mal drückte der Schweizer mit türkischen Wurzeln vorletzten Samstag in Würenlingen AG ab. Kurz vor Mitternacht tötete er seinen Schwiegervater, seine Schwiegermutter, seinen Schwager, einen Nachbarn – und sich selbst.

Der Polizei war Semun A. gut bekannt. 2007 wurde er wegen Körperverletzung angezeigt, 2012 wegen Drohung. Am 2. April durchsuchten Beamte seine Wohnung in Reichenburg SZ nach Waffen – ohne Erfolg. 

Und so reiht sich der Fall Würenlingen ein in die traurig lange Reihe von Amokläufen in der Schweiz. 1986 erschoss Günther Tschanun in Zürich vier seiner Mitarbeiter. 2001 lief Friedrich Leibacher im Zuger Kantonsrat Amok und tötete 14 Menschen. 2013 erschoss Viktor B. in Menznau LU vier Mitarbeiter der Firma Kronospan.

«Bedrohungsmanagement»

In allen Fällen gab es vor der Tat Alarmzeichen. Doch stoppen konnten die Behörden die irren Killer nicht. Das soll sich jetzt ändern. Gezielt bauen die Kantone derzeit die Gewaltprävention aus. Mit einem systematischen «Bedrohungsmanagement» sollen potenzielle Amoktäter identi­fiziert und eine Eskalation verhindert werden.

Zahlreiche Kantone führen neu Namenslisten von gefähr­lichen Personen. Polizisten und Psychologen suchen das Gespräch mit ihnen. Die Polizei beschlagnahmt Waffen. Wenn alles nichts nützt, nehmen sie die Amoks präventiv in Haft.

Vorreiter sind die Kantone Zürich und Solothurn. «Bei vielen Gewalttaten in der Vergangenheit gab es im Vorfeld Warnzeichen, die zu wenig beachtet oder im Gesamtzusammenhang nicht ernst genommen worden sind», sagt Thomas Zuber (53), Kommandant der Kantonspolizei Solothurn. «Wir versuchen, bei bedrohlichem Verhalten einer Person durch Information und aktives Handeln Gewaltdelikte zu verhindern.» Eine hundertprozentige Sicherheit gebe es aber nie.

74 Namen stehen derzeit auf der Liste der Kapo Solothurn. Bei 70 Personen besteht eine erhöhte Gefährdungslage, die sich auch durch Gespräche nicht entschärfen liess. Bei vier Personen sehen die Experten sogar eine «hohe Gewaltbereitschaft». «Es sind Leute, mit denen die Behörden oder die Polizei immer wieder zu tun haben», sagt Zuber.

Ausgehend von den Zahlen aus Solothurn zeigt eine Hochrechnung der Experten: Rund 2000 Personen in der Schweiz gelten als hochgefährlich! Allein der kleine Kanton Baselland be­arbeitet derzeit über 30 Fälle. Kommandant Zuber aus Solothurn: «Deshalb ist es so wichtig, dass ein Bedrohungsmanagement in möglichst vielen Kantonen aufgebaut wird.» 

Die Kantonspolizei Zürich beschäftigt mittlerweile zehn professionelle Bedrohungsmanager, alle in einem 100-Prozent-Pensum. «Die Bevölkerung erwartet, dass die Polizei Gewalt­delikte nicht nur aufklärt, sondern auch verhindert», sagt Reinhard Brunner (51), Chef der Präventionsabteilung bei der Kapo Zürich.

Jeden Tag erhält die Fachstelle mehrere Gefährdungsmeldungen. Die Zahl der bearbeiteten Fälle stieg von 177 im Jahr 2012 auf 293 im letzten Jahr. «Wir rechnen für 2015 mit über 300 Fällen», sagt Hans Schmid (52), Dienstchef Gewaltschutz.

Auf den Radar kommen Querulanten, die Beamte bedrohen. Männer, die ihre Frau schlagen. Nachbarn, die sich in den Haaren liegen. Aber auch Väter, die ihre Töchter zwangsverheiraten wollen. Und Islamisten.

Ämter, Gemeinden, Polizisten und besorgte Bürger melden sie. Über 230 Mitarbeiter aus Gemeinden und Behörden hat die Kapo eigens geschult. Das Netzwerk sei «matchentscheidend» für die Früherkennung, sagt Schmid. «Wir müssen die Informationen zusammenführen.» Schmid und seine Mitarbeiter arbeiten eng mit Forensikern und Psychologen der Uni Zürich zusammen.

Ziel ist es, mit den Drohern persönlich zu sprechen. Drei Viertel empfangen die Beamten sogar in der eigenen Stube. «Dabei können wir mehr über die Situation erfahren als aus unzähligen Akten.»

Wenn es sein muss, beschlagnahmen die Polizisten Waffen. Und sie können noch weiter gehen: Wenn eine «ganz hohe Ausführungsgefahr» besteht, nehmen die Beamten Droher präventiv in Haft. Die neue Strafprozessordnung erlaubt dies seit 1. Januar 2011. Dreimal machte die Kapo Zürich bisher davon Gebrauch. Sie verhaftete drei Personen, obwohl diese noch keine Straftat begangen hatten. Brunner ist sicher: «Wir konnten so schon ein paar Gewaltverbrechen verhindern.»

Das wollen auch andere Kantone. In Luzern, Schwyz und Glarus ist das Bedrohungs­management im Aufbau. Das Interesse an den Konzepten aus Zürich und Solothurn ist gross. Kommandant Zuber aus Solothurn: «Gerne stellen wir unser Wissen und unsere Erfahrung auch anderen Kantonen zur Verfügung.»

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