Seit einem Jahr dürfen Polen, Tschechen und Bürger aus sechs weiteren osteuropäischen Staaten (EU-8) ungehindert in die Schweiz einreisen – sofern sie einen Job haben. Rund 7000 kamen, erheblich mehr als früher. Die meisten von ihnen stammen aus Polen.
Mit dieser Einwanderungswelle sind laut Bundesrat die Voraussetzungen erfüllt, dass die Schweiz auf Anfang Mai den Zustrom aus diesen Ländern bis Frühling 2014 beschränken kann. Die Frage ist, ob der Bundesrat dies will. Am Mittwoch entscheidet er.
Die betroffenen Länder und EU-Freunde hierzulande versuchen nun, den Bundesrat zu beeinflussen. In der «NZZ am Sonntag» äusserten Botschafter mehrerer Oststaaten, die Schweiz habe kein Recht, die 2004 neu beigetretenen EU-Mitglieder anders zu behandeln als die «alte» EU.
Diskriminierend sei das! Schützenhilfe kam vom Berner Europarechtler Thomas Cottier: Im Vertrag gebe es keinen Anhaltspunkt, dass die Ventilklausel auf einzelne EU-Staaten angewendet werden darf.
Entweder auf alle – oder auf keinen. Die SP forderte vom Bundesrat eine vertiefte Prüfung, wie sie die EU bereits in Angriff genommen hat.
Dabei ist die Sachlage eindeutig, der entscheidende Passus allerdings in einem von Hunderten Bundesordnern versteckt, die das komplizierte Verhältnis Schweiz-EU regeln. Er steht auf Seite 5899! In der Botschaft zur Genehmigung des Protokolls zum Freizügigkeitsabkommen von 2004.
Auf Seite 5899 geht es ausdrücklich um die fraglichen acht EU-Länder – und es heisst: «Zusätzlich hat die Schweiz (...) bis im Jahre 2014 weiterhin die Möglichkeit, im Falle einer massiven Zuwanderung erneut Höchstzahlen festzusetzen» (siehe Ausriss).
Tobias Jaag, Professor für Europarecht an der Uni Zürich, findet dies entscheidend. Der Vertrag allein genüge zur Feststellung der Rechtslage nicht. Auch der Gang der Verhandlungen müsse berücksichtigt werden. Und gemäss dem ist für Jaag klar: «Es würde gegen Treu und Glauben verstossen, wenn man den damaligen Konsens heute nicht mehr gelten lassen wollte.»
Andreas Ziegler, Professor für Europarecht an der Uni Lausanne, sieht es genauso: «Es scheint, dass zwischen der EU und der Bundesverwaltung Einvernehmen darüber herrschte, dass eine Anrufung der Ventilklausel separat für die neuen Mitglieder möglich ist.» Laut Ziegler wäre es eindeutiger gewesen, die Regelung im Vertrag festzulegen.
Der Bundesrat darf also die Zuwanderung aus den acht Osteuropa-Staaten vorübergehend bremsen. Laut Insidern ist am Mittwoch mit einem knappen Ja zu rechnen.
Die Wirkung wäre eher symbolisch. Laut Schätzungen kämen jährlich etwa 4000 Personen weniger zu uns – bei einer Gesamteinwanderung von 75000 im letzten Jahr.