Guido Graf (55) ist einer der besten Kenner der Asylsituation in der Schweiz. Seit 2010 ist der CVP-Politiker Regierungsrat des Kantons Luzern und leitet das Gesundheits- und Sozialdepartement. Der dreifache Familienvater und Oberstleutnant scheut sich nicht, Klartext zu reden. Dabei läuft aus seiner Optik im Flüchtlingswesen fast nichts gut. Dem Bund fehle das Engagement bei der Integration von Asylbewerbern. Es gebe viel zu wenig Geld. Justizministerin Simonetta Sommaruga (55, SP) trete gegenüber Flüchtlingen zu wohlwollend auf. Die SVP kämpfe mit haltlosen Argumenten gegen die geplante Asylgesetzrevision. Und Gerhard Pfister (53), künftiger CVP-Chef, liege mit seiner Forderung nach einer Asyl-Obergrenze falsch. SonntagsBlick hat den Pfaffnauer in Luzern besucht – hier seine zehn wichtigsten Punkte aus dem zweistündigen Gespräch.
Die Schweiz muss 2016 mit bis zu 60'000 Asylgesuchen rechnen
«Mit der Schliessung der Balkanroute wird die Schweiz im Jahr 2016 verstärkt zum Zielland von Flüchtlingen. Es könnten bis zu 60'000 Asylgesuche werden. Es ist zu erwarten, dass es bald Ausweichrouten geben wird. Wenn diese von Albanien über das Meer nach Italien führen, werden wir dies unmittelbar spüren. Zudem wird der Fluchtweg über das östliche Mittelmeer nach Italien wieder mehr an Bedeutung gewinnen. Wenn beide Fluchtrouten in Italien zusammenkommen, wird sich eine grosse Anzahl Flüchtlinge nach Norden bewegen – davon wird die Schweiz direkt betroffen sein. In den letzten Jahren sind jeweils zehn Prozent der in Italien gelandeten Flüchtlinge in der Schweiz angekommen.»
Der Bund ist auf einen Ansturm nicht vorbereitet
«Der Bund hat zwar mit der Möglichkeit der Requirierung von Zivilschutzanlagen die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Trotzdem scheint er seine Mitverantwortung im Ernstfall nicht wirklich wahrnehmen zu wollen. Die Pläne, die bisher durchgesickert sind, deuten darauf hin, dass der Bund die gesamte Unterbringung auf die Kantone abschieben will – das heisst: auch die ganze finanzielle Zusatzlast, die da auf uns zukommt. Damit bin ich nicht einverstanden. Der Bund muss seine Unterkunftskapazitäten ebenfalls hochfahren. Er muss mindestens 10'000 Plätze schaffen, bei denen er auch für die Betreuung zuständig ist.»
Keine Obergrenze
«Das funktioniert doch nicht. Wer weist ein elfjähriges Mädchen aus Eritrea ab, das alleine an der Grenze steht? Niemand. Das ist nicht praktikabel. In Luzern liegt der Leerwohnungsbestand bei unter einem Prozent. Faktoren wie dieser werden die Grenzen der Aufnahmefähigkeit diktieren. Das Problem sind die vielen Wirtschaftsflüchtlinge. Alle wollen den Verfolgten helfen. Darüber herrscht in der Schweiz ein gesellschaftlicher Konsens. Hingegen kann man die teure Aufnahme von vielen Wirtschaftsflüchtlingen mit Steuergeldern den Bürgern nicht länger erklären.»
Sommaruga kommuniziert schlecht
«Ich war überrascht, dass sie im vergangenen Dezember das Departement behalten hat. Ich rechnete mit einem Wechsel. Oft habe ich das Gefühl, dass sie zu wenig offen mit uns kommuniziert. Es ist einfach, sich als Wohltäterin darzustellen und medienwirksam mitzuteilen, dass die Schweiz Flüchtlinge aufnimmt. Wir haben die Asylsuchenden dann in unserem Kanton – und müssen sie integrieren. Und gerade bei der Integration hält sich der Bund vornehm zurück.»
Die Kantone brauchen für die Integration mehr Geld vom Bund
«Ich brauche mehr Geld, und zwar jetzt! Pro Person, die wir in den Kantonen integrieren müssen, erhalten wir von Bern einmalig 6000 Franken. Damit können Sie kaum einen Deutschkurs bezahlen. Und gelingt die Integration in den Arbeitsmarkt nicht, sind die Folgekosten in einigen Jahren massiv. Wenn ich 20'000 Franken bekäme, könnten sich Flüchtlinge fit für den Arbeitsmarkt machen. Die beste Integration ist Arbeit. Wenn es uns nicht gelingt, dass diese Menschen eine Ausbildung absolvieren und einen Job finden, landen sie in der Sozialhilfe. Das kostet uns dann jährlich 20'000 Franken. Bei den Flüchtlingen zahlt der Bund nur fünf Jahre lang Beiträge, dann sind die Kantone zuständig. Und nach zehn Jahren die Gemeinden. Wenn wir die Integration nicht schaffen, sitzen wir bald auf einem sozialpolitischen Pulverfass.»
Die Situation ist anspruchsvoller als in den 90er-Jahren
«Am Schluss zählt nur, wie viele hier bleiben und wie stark sie den Staat belasten. Von den Kosovaren blieb einer von fünf. Heute bleiben sechzig bis achtzig Prozent. Das ist eine ganz andere Situation. Diejenigen, die da bleiben, sind unser Problem. Die haben Anrecht auf Leistungen. Deshalb sind unter dem Strich die Flüchtlingszahlen viel höher als vor zwanzig Jahren. Dazu kommt: Der Sozialstaat ist ausgebauter als früher. Das macht alles teurer als bei der letzten grossen Flüchtlingswelle. Die jüngsten unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden in Luzern sind erst elfjährig.»
70 Prozent landen in der Sozialhilfe
«Wir machen es einfach nicht gut. Neben den fehlenden Mitteln für die Integration setzen wir falsche Anreize. Derzeit landen 70 Prozent der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen in der Sozialhilfe. Für einen Flüchtling erhalten wir vom Bund rund 1500 Franken. Wenn einer ein Praktikum absolviert, zahlt der Bund keinen Franken mehr. Sobald der kleinste Verdienst da ist, zieht sich der Bund zurück. So werden die Integrationsleistungen der Kantone bestraft. Das ist absurd, weil die Arbeitsmarktintegration meist über Teilzeitjobs mit kleinen Pensen erfolgt. Mein Vorschlag: Der Kanton übergibt die Verantwortung bereits nach acht Jahren an die Gemeinden. Mit den so frei werdenden Mitteln verstärken wir in der Zeit davor die Integrationsbemühungen.»
Mindestlöhne sind schädlich
«Die Gesamtarbeitsverträge sind der Integration hinderlich. Die Mindestlöhne sind viel zu hoch. Ein ungelernter Maurer bekommt 4548 Franken. Wie soll ich die Leute unter diesen Bedingungen einem Baumeister vermitteln? Die Unternehmer können sich diese Löhne gar nicht leisten. Flüchtlinge, die wir zu integrieren versuchen, sollten nicht unter einen GAV fallen. Hier muss der Bundesrat eingreifen.»
Rückschaffungen nach Eritrea sind zumutbar
«Seit vergangenem Sommer sage ich: Wir dürfen die Eritreer nur vorübergehend aufnehmen, sonst können wir sie nicht zurückführen. Ich brauche diese Plätze für solche, die wirklich verfolgt werden. Beispiel Eritrea: Frau Sommaruga spricht von einem Unrechtsstaat. Was löst das? Gar nichts. Die Verurteilung des Staates bringt nichts, man muss Lösungen suchen. Auch in Afghanistan gibt es Regionen, die sicher sind. Auf die Schweiz übertragen: Wenn in Luzern Krieg herrscht, muss man halt im Jura leben.»
Ein kritisches Ja zur Asylgesetzrevision am 5. Juni
«Das Argument der SVP mit den Gratisanwälten ist haltlos. Eine kostenlose Rechtsberatung beschleunigt die Verfahren. Damit lassen sich auch enorme finanzielle Mittel einsparen. Das begrüsse ich. Ich werde ein kritisches Ja einlegen. Kritisch, weil wir mit der Asylgesetzrevision auf dem richtigen Weg sind, mich aber stört, dass die Kantone immer mehr belastet werden. Wir erleben einen Ansturm auf die Schweiz. Der Bund plant, die Asylsuchenden gleich an die Kantone weiterzuverteilen. Das ist gegen die Spielregeln der Verbundaufgabe. Die Asylsuchenden müssten in Bundeszentren vom Bund überprüft werden, bevor man sie in kantonalen Unterkünften einquartiert. Man delegiert die Kosten einfach an die Kantone weiter. Dabei müssen viele Kantone, auch Luzern, massiv sparen.»