Politologe Klaus Armingeon über das Puff nach dem Brexit-Entscheid
«Die Briten sind doch keine Dummköpfe!»

Viele Brexit-Befürworter seien sich der Tragweite ihres Entscheids wohl nicht bewusst gewesen, sagt Klaus Armingeon (61), Professor für Europapolitik an der Uni Bern. Im Abstimmungskampf «wurde grob vereinfacht und oft nicht die Wahrheit gesagt».
Publiziert: 27.06.2016 um 16:26 Uhr
|
Aktualisiert: 11.09.2018 um 15:45 Uhr
Ruedi Studer

Herr Armingeon, wenn man sich die Reaktionen nach dem überraschenden Brexit-Votum anschaut: Waren sich die Briten ihrer Entscheidung bewusst?
Klaus Armingeon:
Die Briten haben lange über den Brexit debattiert und wussten, dass dieser Konsequenzen haben wird. Ob sich jedoch alle der Tragweite ihrer Entscheidung  bewusst waren, ist fraglich.

Manche bereuen ihren Entscheid offenbar bereits. Gilt für die Briten etwa: Denn sie wussten nicht, was sie tun?
Nein, die Briten sind doch keine Dummköpfe! Sie sind mehr oder weniger ebenso gut gebildet und politisch interessiert, wie andere Europäer auch. Allerdings haben die Briten einen schlechten Kenntnisstand über die EU und ihr System. Kommt hinzu: Viele sind davon ausgegangen, dass es zu einem Remain – also einem Verbleib in der EU – kommt. Nun sind viele erstaunt, dass es doch zum Brexit kommt.

Klaus Armingeon (61) vom Lehrstuhl für Vergleichende Politik und Europapolitik an der Universität Bern.
Foto: Annette Boutellier

Soll man eine solch gewichtige Frage überhaupt dem Volk vorlegen?
Warum nicht? Den Briten wurde eine einfache Frage gestellt – und sie haben eine einfache Antwort gegeben. Entscheidend ist, dass die Parteien das Thema gut aufarbeiten und ihren Anhängern vernünftig begründete Abstimmungsempfehlungen vorlegen. Daran hat es in Grossbritannien eher gefehlt. Es wurde grob vereinfacht und oft nicht die Wahrheit gesagt.

Der Brexit-Entscheid war erst das dritte nationale Referendum in den letzten 50 Jahren. Sind die Briten in Sachen Volksabstimmung vielleicht zu wenig geübt?
Wie viel Übung man für Volksabstimmungen braucht, ist völlig unklar. Natürlich ist etwa das Schweizer System mit sehr vielen Abstimmungen eingeübter und institutionalisierter. Aber das heisst noch nicht, dass die grosse Mehrheit der Stimmbürger ihre Entscheidung immer gut und vernünftig begründen kann. Auch bei uns gibt es viele Möglichkeiten, vereinfachenden Parolen zu folgen.

Mehrere Millionen Briten haben bereits eine Petition für ein neues Referendum unterzeichnet. Hat das eine Chance?
Ich denke, nein! Die Entscheidung ist gefällt. Jetzt kurzfristig eine neue Abstimmung zu fordern, wird als Zwängerei interpretiert.

Die Abstimmung ist juristisch für das Parlament aber nicht bindend. Könnte der Entscheid dort noch gekehrt werden?
Kaum ein Politiker kann es sich leisten, den Volksentscheid zu ignorieren und ihn im britischen Parlament auf den Kopf zu stellen. Das gilt natürlich so nicht in Schottland. Die Schotten wurden überstimmt und sie haben jetzt gute Gründe, den Austritt aus Grossbritannien zu verlangen und damit langfristig wieder der EU anzugehören.

Für Sie als Politologe muss es doch eine Freude sein: Endlich mal nicht nur theoretisch überlegen, was die Folgen eines EU-Austritts sein könnten, sondern endlich mal ein Praxistest!
Es ist hochinteressant, den Prozess nun zu untersuchen. Eine wichtige Frage ist, wer davon profitiert. Wird es den englischen Arbeitnehmern, die Angst vor Lohndruck und Arbeitslosigkeit aufgrund der Einwanderung aus Osteuropa haben, unter einer Regierung von Boris Johnson oder seinen politischen Freunden wirklich besser gehen?

Wie schnell geht es nun vorwärts?
Der EU wird es nun darum gehen, Grossbritannien rasch rauszubekommen. Die EU-Kommission wird verhindern wollen, dass ihr der Laden um die Ohren fliegt. Im eigenen Interesse wird sie nichts unternehmen, um andern Ländern einen Austritt zu erleichtern. Ihre Botschaft wird sein: Wer draussen ist, ist draussen und das hat Nachteile – schaut euch da die Briten an.

Das verheisst für die Schweiz bezüglich Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative nichts Gutes.
Die Schweizer Stimmbürger wussten, dass sie mit einem Ja die Bilateralen gefährden. Sie sind aber davon ausgegangen – und gehen weiterhin davon aus –, dass die Bilateralen Verträge verhandelbar sind, obwohl die EU glasklar und vielfach «Nein» gesagt hat. Dass die EU vor der Schweiz in die Knie geht, ist eine sehr riskante Annahme. Da hat man sich wohl verzockt.

Dann liegt nichts mehr drin?
Ich persönlich halte die Verhandlungsposition der Schweiz für schwach. Schon vor dem Brexit war es kaum wahrscheinlich, eine Einigung zu finden, die sich mit den Bilateralen vereinbaren lässt. Und nach dem Brexit ist die Ausgangslage nicht besser geworden. Selbst wenn es einen gesichtswahrenden Kompromiss gibt, ist klar: Eine sinngemässe Umsetzung des Zuwanderungsartikel ist mit der EU nicht zu haben.

Dann gehen wir in die Offensive und holen Grossbritannien in die Efta!
Die Briten haben  erst mal das Problem, dass sie nun zwei Jahre lang den EU-Austritt verhandeln und ihre künftige Beziehung zur EU regeln müssen. Es ist klar, dass sie mehr sein wollen als bloss ein Drittstaat. Eine Efta mit Norwegen, der Schweiz, Liechtenstein und Island ist für Grossbritannien wohl keine interessante Option. Erst recht nicht der EWR, denn dann müssten sie ja die Personenfreizügigkeit akzeptieren – und genau das wollen sie ja nicht.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?