Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 sind ein düsteres Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte. Vielen Heim-, Pflege- oder Verdingkindern wurde damals Leid und Unrecht angetan. Die Geschichte dieser Opfer wird nun politisch und wissenschaftlich aufgearbeitet. Verschiedene Gedenkanlässe, Veranstaltungen und Ausstellungen, Filme, Lebensberichte von Opfern sowie eine Volksinitiative (Wiedergutmachungsinitiative) und ein von Bundesrätin Simonetta Sommaruga eingesetzter Runder Tisch tragen entscheidend dazu bei.
Ein Novum und ein Zeichen
Die Schweizerische Post übergab heute Nachmittag Bundesrätin Sommaruga und Vertreterinnen und Vertretern der Opfer nun eine Sondermarke mit Zuschlag. Sie ist ab Donnerstag gültig und hat einen Verkehrswert von einem Franken, der Zuschlag beträgt 50 Rappen. Die Zusatzeinnahmen fliessen vollumfänglich in den Soforthilfefonds für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981.
Die Sondermarke für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ist ein Novum. Denn bis anhin gab die Schweizerische Post einzig für die Stiftungen Pro Juventute und Pro Patria Sondermarken mit Zuschlag heraus. Der Runde Tisch für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen hatte 2014 bei der Post ein formelles Gesuch für die Herausgabe einer Sondermarke mit Zuschlag eingereicht. Die Post hiess das Gesuch gut, und erweiterte damit Horizonte, wie Konzernleitungsmitglied und Leiter Poststellen und Verkauf, Thomas Baur, sagte. Mit der neuen Marke setze die Post ein Zeichen: Sie stelle sich der Schweizer Geschichte und setze sich für die Opfer ein.
Gesetz rasch verabschieden
Bundesrätin Sommaruga sagte, mit der Sondermarke anerkenne die Schweiz ein weiteres Mal ganz offiziell das Unrecht, das begangen worden sei. «Eine Briefmarke ist ein staatliches Wertzeichen, und diese Sondermarke ist ein amtliches Zeichen der Wertschätzung gegenüber den Menschen, die unter fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen gelitten haben.» Die Sondermarke solle die Gesellschaft daran erinnern, die Schwächeren zu schützen und alles vorzukehren, damit sich das Geschehene nicht wiederholen könne. Sommaruga unterstrich in diesem Zusammenhang weiter, wie wichtig es ihr und dem Bundesrat sei, dass das Gesetz zur Aufarbeitung dieses Kapitels der Schweizer Geschichte rasch verabschiedet werde.
Das «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» wird derzeit von der Eidgenössischen Bundesversammlung beraten. Es handelt sich dabei um einen indirekten Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative. Der Bundesrat möchte, dass schätzungsweise 12'000 bis 15'000 noch lebende Opfer finanzielle Leistungen –sogenannte Solidaritätsbeiträge – von insgesamt 300 Mio. Franken erhalten. Diese sollen durch den Bund und durch freiwillige Zuwendungen der Kantone finanziert werden.
Weiter soll das neue Bundesgesetz das geschehene Unrecht gesetzlich anerkennen, die Akten sichern und die Akteneinsicht für die Betroffenen regeln. Zudem soll ein nationales Forschungsprogramm die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung ermöglichen. Der Nationalrat hat dem Vorschlag des Bundesrats bereits zugestimmt. In der bevorstehenden Herbstsession ist nun der Ständerat am Zug. (hlm)