frank & frei
Der Täter als Opfer

Publiziert: 01.01.2017 um 12:03 Uhr
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Aktualisiert: 18.01.2019 um 17:30 Uhr
Frank A. Meyer
Frank A. Meyer
Foto: Antje Berghäuser

Zwölf Menschen tötete Anis Amri auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche, als er einen Truck in die Menschenmenge lenkte. Ein gelungenes Attentat. Ein Erfolg. Inzwischen ist auch Anis Amri tot. Er wurde in Mailand von der Polizei erschossen.

Die «Süddeutsche Zeitung» widmete seinem Terror-Attentat eine grosse Reportage: angerissen mit einem dominierenden Bild auf Seite eins, handwerklich perfekt und mit fünf weiteren Bildern abgehandelt auf der für ihre grossen Reportagen berühmten Seite drei.

Wem hat die «Süddeutsche Zeitung» das sensible Stück Journalismus gewidmet? Einem der zwölf Terroropfer? Einer der trauernden Familien?

Ja, einer Trauerfamilie: den tunesischen Angehörigen des Attentäters Anis Amri.

Zu diesem Zweck flogen zwei herausragende Journalisten nach Tunesien. Sie schrieben mitfühlend über die traumatisierten Eltern Amris. Sie liessen sich von seiner Jugend erzählen und davon, dass er der verwöhnte Jüngste der Familie gewesen sei. Sie werteten es als «im Nachhinein besonders bitter», dass zwei ältere Brüder aus dem Jüngsten einen LKW-Fahrer hatten machen wollen. Sie berichteten, dass Anis’ Vater einen Arm verloren hat, aber mit bald achtzig immer noch «auf seiner Eselkutsche Gemüse ausfährt».

Die «Süddeutsche Zeitung» machte ihre Leser vertraut mit einen Familien-Schicksal hinter dem Terror von Berlin. Der Titel über dem gefühligen Text, der auch vom Zürcher «Tages-Anzeiger» ganzseitig abgedruckt wurde: «Unser Junge.»

Der Mörder von zwölf Menschen – «unser Junge»? Wie kommt man auf so etwas?

Warum machte die grösste unter den deutschen Tageszeitungen keine Reportage über die Trauerfamilie der jüdischen Touristin Dalia Elyakim, die auf dem Weihnachtsmarkt getötet wurde?

So seltsam es klingen mag: Es liegt an einer Ideologie, die von linksliberal über links bis linksradikal gepflegt wird: Danach sind Täter nämlich Opfer – in der Regel sogar die interessanteren Opfer als die, welche ihnen zum Opfer gefallen sind.

Man kann diese Opfer-Ideologie getrost als Erbe der 68er-Kultur bezeichnen. Als Folge eines politischen Dogmas, nach dem das herrschende System – also das kapitalistisch-westliche – grundsätzlich Schuld trägt an allen Fehlentwicklungen des Einzelnen.

So ist denn ein Mörder zwar ein Mörder und ein Terrorist zwar ein Terrorist – dahinter aber steckt die böse Gesellschaft. Ja, das Böse ist gesellschaftlich vorgegeben und macht «unseren Jungen» zum Attentäter. Die westliche Zivilisation, brutal-materialistisch, wie sie ist, gebiert ihre Täter.

Die Linke der offenen Gesellschaft huldigt keinem Opfer-, sondern einem Täter-Kult: zelebriert von Soziologen, Psychologen, Therapeuten – einer wahren Klerisei dieses Glaubens aus den Urzeiten der Bürgerkinder-Rebellion.

Die linke Kolumnistin und Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels Carolin Emcke fand warme Worte für die Attentäter von Paris: Auch «das gescheiterte Leben der Täter gilt es zu betrauern». Heute also auch das gescheiterte Leben des Anis Amri.

Wer die Verantwortung für das Handeln des Einzelnen den herrschenden Verhältnissen zuschreibt, der entmündigt den Einzelnen. Freilich passt auch das zu einer freiheitsskeptischen Mentalität, für die alles Wohl und Wehe der Gesellschaft in der sozialen Gerechtigkeit wurzelt. Und wenn diese erst einmal verwirklicht ist? Gibt es keine Terroristen mehr.

Wer dergestalt auf der Endmoräne des Marxismus sitzt, der überblickt die politische Landschaft und weiss: Sind erst einmal die materiellen Verhältnisse so, wie sie sein sollten, lösen sich alle Fehlentwicklungen auf, sind sie doch nichts als Nebenwidersprüche.

Und immer gilt: Je bedürftiger ein Vergewaltiger, Mörder, Terrorist, desto grösser die gesellschaftliche Pflicht, den Verhältnissen nachzuforschen, die ihn dazu gemacht haben. Also auf nach Tunesien.

Sieben Flüchtlinge aus Syrien und Libyen haben jüngst in einem Berliner U-Bahnhof einen schlafenden Obdachlosen angezündet – und sind dann lachend davongefahren.

Was für eine Tat! Was für Opfer, diese sieben jugendlichen Täter!

Hat man sich zu wenig um sie gekümmert? Hat man sträflich vernachlässigt, dass sie doch Notleidende sind, arme Entwurzelte in einem fremden Land sind? Herrscht nicht schrecklicher Krieg in ihrer Heimat?

In der Nacht des Attentats auf dem Berliner Weihnachtsmarkt wusste der Terrorismusexperte Elmar Thevessen bereits, was den Attentäter radikalisiert haben könnte: die Nachrichten aus Aleppo.

Weil nun aber am Elend von Aleppo der Westen Schuld trägt, liegt auf der Hand: Der Mörder Anis Amri ist auch das Opfer Anis Amri.

Und wir sind die Täter.

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